Die Helden von Tschernobyl
25. April 2006Auf dem zentralen Platz der weißrussischen Ortschaft Bragin südlich von Gomel steht ein Denkmal für einen Feuerwehrmann: Wassilij Iwanowitsch Ignatenko, so ist der Aufschrift zu entnehmen, lebte vom 13. März 1961 bis zum 13. Mai 1986. Er war der erste weißrussische Feuerwehrmann, der sterben musste, weil er bei den Löscharbeiten im havarierten Atomkraftwerk Tschernobyl einer zu hohen Strahlendosis ausgesetzt war.
Ignatenko war einer der so genannten Liquidatoren, wie die Aufräumarbeiter genannt werden, die nach der Katastrophe im ukrainisch-weißrussischen Grenzgebiet im Einsatz waren. Ihre Aufgabe war es, die Anwohner zu evakuieren, Plünderer von deren Häusern fern zu halten und auf dem Kraftwerksgelände die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen auszuführen. Sie halfen beim Bau des Sarkophags aus Stahlbeton um den zerstörten Reaktor Nummer vier sowie beim Abtransport von verstrahltem Gerät zu zentralen Sammellagern. Viele von ihnen waren Soldaten in der Roten Armee der ehemaligen Sowjetunion. Die Liquidatoren, von denen gut 30 schon in den ersten Wochen umkamen, werden noch heute vom Volk als die Helden von Tschernobyl gefeiert.
Schnelle Eingreiftruppe
"In der Nacht zum 26. April 1986 habe ich auf einmal einen riesigen Knall aus der Richtung des Kraftwerks gehört, und da bin ich trotz meines Urlaubs sofort an meinen Arbeitsplatz geeilt", erinnert sich der einstige Ingenieur und Schichtleiter Viktor Karlow, der damals in der drei Kilometer vom Werk entfernten Arbeiterwohnstadt Prybjat lebte. In den folgenden Wochen half er, den nuklear verseuchten Boden umzupflügen, Ausrüstungsgegenstände zu desinfizieren und das vorerst deaktivierte Kraftwerk für den weiteren Betrieb in Stand zu setzen.
Die extrem hohe Strahlenbelastung sowie der ungeheure Stress des Einsatzes haben bei dem heute 66-Jährigen Spuren hinterlassen: Schon bald hatte er schwere Magengeschwüre, nach fünf Operationen wurde ihm der Magen entfernt. Später erlitt er einen Herzinfarkt, Durchblutungsstörungen beeinträchtigten schließlich auch die Gehirnfunktionen. Karlow wird heute in der neurologischen Abteilung des Kiewer Forschungszentrums für Strahlenmedizin behandelt, das im Oktober 1986 eigens für die Tschernobyl-Opfer errichtet wurde.
Bis zu 800.000 Liquidatoren haben zeitweise in der verstrahlten Zone gearbeitet, etwa 200.000 längerfristig. Oft sind sie von Schilddrüsenkrebs betroffen und ebenso von Leukämie und Lungenkrebs.
Vergessene Helden
Wenn sich die Tschernobyl-Katastrophe am 26. April zum 20. Mal jährt, erinnern sich die russischen Behörden für kurze Zeit an Helden von Tschernobyl: In Moskau werden sie eine Gedenkplakette und eine Geldprämie in Höhe von umgerechnet 30 Euro erhalten. Doch dann werden sie wieder ihrem Schicksal überlassen: Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion hatten ihnen weitreichende Hilfen versprochen, doch nach wie vor müssten viele Liquidatoren die ihnen gesetzlich zustehenden Zahlungen mühevoll einklagen, so Wjatscheslaw Grischin, der Chef des Liquidatoren-Verbandes "Tschernobyl-Union".
In 70 bis 80 Prozent der Fälle weigerten sich die Behörden, Arbeitsunfähigkeit der Katastrophen-Helfer mit deren Tschernobyl-Einsatz in Verbindung zu bringen. Davon allerdings hängt heute die Rente der Betroffenen ab. Manche der Liquidatoren haben mit monatlichen Zuwendungen von umgerechnet 800 Euro oder mehr inzwischen ein für russische Verhältnisse erträgliches Auskommen - solange sie nicht auf teure medizinische Behandlungen angewiesen sind.
Zu wenig zum Leben
Andere mit einer fast identischen Biografie kommen dagegen noch nicht einmal auf 50 Euro monatlich. "Diese Differenzierung ist einfach nicht gerecht", klagt Grischin. Dabei geht es den russischen Tschernobyl-Helfern noch relativ gut. In der Ukraine und in Weißrussland befassen sich zwar eigene Behörden mit den Folgen der Katastrophe, die materielle Lage der Betroffenen ist jedoch noch schlechter.
Zwei Jahrzehnte nach dem Unglück spricht die Statistik eine unbarmherzige Sprache: Über 50.000 Liquidatoren sind meist in jungen Jahren bereits gestorben, ein erheblicher Teil der Überlebenden kann keinen Beruf mehr ausüben. Wjatscheslaw Grischin wird auch in diesem Jahr den 26. April so begehen wie die vergangenen Jahrestage der Katastrophe: "Nach einer Trauerfeier auf dem Friedhof in Mitino setzen wir uns mit den Verwandten der Toten zusammen und trinken ein Glas bitteren Wodka auf das Wohl der Männer." (ina)