"Die Herzen der Täter müssen brennen"
17. April 2012Reporter berichteten, Angeklagte und Angehörige der Opfer hätten sich gegenseitig angeschrien, im Gerichtssaal habe blankes Chaos geherrscht. Das Verfahren musste unterbrochen werden. Zahlreiche der 75 Angeklagten plädierten auf nicht schuldig und wiesen unter "Allahu Akbar" ("Gott ist groß")-Gesängen den Vorwurf des vorsätzlichen Mordes zurück. Sie bezichtigten Polizisten und Sicherheitskräfte, für die Ausschreitungen verantwortlich zu sein.
Neue Dimension der Gewalt
Fußball ist in Ägypten nicht nur eine der beliebtesten Sportarten, sondern auch ein Katalysator der Emotionen. Doch das, was Anfang Februar im Stadion von Port Said geschah, ging weit über das bislang Vorstellbare hinaus. Am Rande des Erstliga-Spiels zwischen Al-Masri und Al-Ahly kam es zu heftigen Auseinandersetzungen aufgebrachter Fans, bei denen 74 Menschen getötet und rund 1000 verletzt wurden. Es war eine neue Dimension der Gewalt, die auch eine politische Komponente gehabt haben soll. Denn viele Angehörige suchten nach der Katastrophe von Port Said die Verantwortung für die Eskalation bei den Sicherheitskräften und damit indirekt auch beim Militärrat. Unter den Angeklagten sind auch neun Polizisten und drei Funktionäre des Vereins Al-Masri. Das Gericht muss klären, ob der Verdacht berechtigt ist, dass die beim Sturz des Ex-Diktators Husni Mubarak aktiven Anhänger von Al-Ahly auch durch die ungewöhnliche Passivität der Polizei zu Zielscheiben für Getreue des früheren Regimes gemacht wurden.
Die Trauer und Wut der Angehörigen wird der Prozess jedoch nur schwer lindern können. "Die Herzen der Täter müssen brennen. So wie die unserer Söhne", sagt die Mutter von Mohamed Roshdy, der vor zweieinhalb Monaten bei den Fußball-Krawallen in Port Said ums Leben kam. Der Schmerz sitzt immer noch tief, ihre Worte klingen wie Schreie; Schreie der Verzweifelung. Ihre Zuhörer sind andere Mütter, die sich am Muttertag in einer Seitenstraße unweit des Tahrir-Platzes treffen. Dort, wo das Herz der ägyptischen Revolution schlug, lernen sie sich kennen, weil ihre Söhne tot sind. Gestorben am 1. Februar dieses Jahres in der Hafenstadt Port Said, im Stadion des Vereins Al Masri.
Fans werden zu Revolutionären
Al Masri war gerade dabei, das Spiel gegen Al Ahly, den Hauptstadtclub, den sie in Ägypten auch den Club des Jahrhunderts nennen, zu gewinnen - als das begann, was sie in Ägypten nur das Massaker nennen. Bewaffnete Al Masri-Anhänger stürmten den Platz und den gegnerischen Fanblock. 74 Menschen starben. Zerquetscht, erstochen, von den Tribünen geworfen.
Die Getöteten waren so genannte Ultras von Al Ahly. Hartgesottene Fans, wie es sie in vielen Ländern gibt, die aber in Ägypten eine Rolle gespielt haben, die weit über die Stadiongrenzen hinausgeht. Als die Revolution in Ägypten vor einem Jahr blutig wurde, kämpften die schlachtenerprobten Ultras von Al Ahly gegen das repressive Regime Mubarak. Damals wurde sichtbar, was sich seit Jahren in den Stadien Kairos zeigte: Der Fußball war zu einem Ventil geworden, sich gegen die Machthaber zu erheben: "Es gab ja nur zwei Möglichkeiten, sich aufzulehnen. In der Moschee und auf dem Fußballplatz. Ein Regime kann nicht alle Gläubigen inhaftieren, auch nicht Millionen Fußballfans. Die Ultras sind hoch politische, gut organisierte straßenkampfgeschulte Fans, die die Polizei, wenn nicht fürchten, so aber zumindest respektieren musste", sagt James Dorsey, der an der Universität Singapur über die Beziehung von Politik und Fußball im Mittleren Osten forscht.
Die Forderung nach der Todesstrafe
Nicht nur Dorsey sieht in dem Massaker von Port Said eine Racheaktion der Polizei gegen die Ultras von Al Ahly - wegen jahrelanger, auch gewaltsamer, Auseinandersetzungen und natürlich ihrer Rolle bei der Revolution. Sicherheitskontrollen im Vorfeld des Spiels hatten nie stattgefunden und die im Stadion anwesenden Polizisten taten wenig bis nichts, um das Morden zu verhindern.
"Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Kühlschrank, der ist interessant", sagt uns Ultra-Fan Amr Fahmy und geht in die Küche. Der rote Aufkleber, auf den er zeigt, klebt an seinem Kühlschrank. "Ultras WJF" steht darauf. Es sind die Initialen der Ultras des Freiburger SC aus Deutschland: "Freiburg hatte eine Kondolenznachricht an uns geschickt, die Ultras von Eintracht Braunschweig und Bayern München auch", sagt Fahmy, der in Kairos Ultraszene so etwas wie ein Anführer ist. Fahmy war in Port Said mit dabei, hat dort Freunde verloren. Auch er gehört zu denen, die den Fußball über Jahre genutzt haben, sich Gefechte mit der regimetreuen Polizei zu liefern. Auch gewaltsam. "Hoffentlich gibt es eine historische Anzahl an Todesstrafen. Es wird hoffentlich ein Urteil, das eine ganz starke Nachricht sendet, an alle die glauben, es gäbe kein Gesetz in Ägypten nach der Revolution", sagt er und drückt damit aus, was hier viele der Ultras denken. Allerdings gehört Amr Fahmy zu den Älteren und Gemäßigteren in der Ultrabewegung.
Es droht die nächste Katastrophe
Andere Ultras erzählen, dass sie das, was sie Recht nennen, in die eigenen Hände nehmen werden, sollte das Urteil in ihren Augen zu milde ausfallen. James Dorsey überrascht das nicht: "Es mag sehr gut sein, dass einige der Ultras ein Urteil akzeptieren werden. Das Problem aber ist, dass die damaligen Gründer nicht mehr überall die Kontrolle haben, und sie sind ja die Politischen, die höher Gebildeten. Für die breite Masse wird es um Rache gegen die Polizei gehen."
Anders als die Justiz hat der ägyptische Fußball seine Sanktion bereits beschlossen: Die Liga ist für dieses Jahr ausgesetzt, der Verein Al Masri wurde für zwei Jahre suspendiert. Der Sport ist aber ohnehin längst in den Hintergrund getreten und sollte den weniger gemäßigten Ultras das Urteil der Justiz nicht reichen, droht nicht nur Ägyptens Fußball die nächste Katastrophe.