Die Hände von Orhan Pamuk
29. Oktober 2005Feingliedrige Finger drücken sich leicht in den Stoff, während die Handflächen in ruhiger Bewegung die Armlehnen des schwarzen Sessels einmal runter und wieder raufrutschen. Es ist wie ein Zeichen, als wollten die Hände sagen: "So, gut jetzt. War schön mit euch allen, aber jetzt wird es Zeit für uns zu gehen." Und dabei wirken sie nicht einmal arrogant sondern eher freundlich und zurückhaltend, so wie ihr Besitzer Orhan Pamuk. Der wird unter dem Applaus von 500 Menschen an diesem Abend im Kölner Schauspiel verabschiedet. Seine Hände ziehen ihn aus dem Sessel, bevor sie sich mit dezentem Druck von den anderen Podiumsteilnehmern verabschieden. Von Pamuks Übersetzer, dann von seinem Verleger und schließlich vom Moderator der Diskussionsrunde. Die Hände winken noch einmal kurz ins Publikum, dann verschwindet Pamuk hinter der Bühne.
Deutsch-türkischer Kulturmix
Anderthalb Stunden zuvor. Das Schauspiel Köln ist ausverkauft. Schon seit Tagen. Glück hat, wer noch eine der nicht abgeholten Karte ergattern kann. Im Foyer wabert ein freudig erregtes, deutsch-türkisches Stimmengewirr vom Einlass zur Bar und die Treppen hoch in den Theatersaal. Das Publikum spiegelt den Kulturmix wieder, für den Orhan Pamuk steht: Kurdisch-türkische Männer, typisch westliches Feuilleton-Publikum, junge Türkinnen mit Kopftuch, stylische junge Deutsche und Männer mit Anzug und Handy. Ein Tag nach der Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche betritt der türkische Schriftsteller die Bühne. Seine rechte Hand winkt kurz ins Publikum, während er ruhig aber zielstrebig auf die vier Sessel zugeht, die in der Mitte der Bühne platziert wurden. In der linken Hand die türkische Fassung seines Romans "Schnee".
Zwischen Tradition und Moderne
Es ist sein erster politischer Roman. Mit sensibler Hand hat Pamuk die Zerrissenheit der Türkei zwischen Tradition und Moderne aufgeschrieben, zwischen zwei Zivilisationen und zwei Religionen, zwischen Osten und Westen. "Lasst Tradition und Moderne aufeinanderprallen, lasst sie nebeneinander bestehen, seht das nicht so dramatisch, glaubt nicht den Politikern, die behaupten, die türkische Identität speise sich nur aus einer Quelle. Islamische Tradition ist kein Hindernis für eine moderne Gesellschaft, nicht einmal für eine säkulare."
Man hört diese Klugen Sätze und sieht ihn geradezu vor sich, wie er Händchen haltend, die Tradition links und die Moderne rechts, durch die türkische und internationale Literaturszene schlendert. Dabei würden ihm seine Kritiker - Nationalkonservative, Militärs und rechte Juristen - am liebsten alles entreißen und seine fleißigen Schriftstellerhände in Fesseln legen.
Im Dezember 2005 wird Pamuk in Istanbul vor Gericht stehen. Drei Jahre Haft wegen Beleidigung des Türkentums fordert die Staatsanwaltschaft. Jüngst hat auch noch ein rechtsgerichteter Juristenverband Klage eingereicht: Pamuk habe in einem Interview mit einer deutschen Zeitung das Militär verunglimpft. Auch mit der Frankfurter Auszeichnung wird es für Orhan Pamuk, den Patrioten, der keine Hand vor den Mund nimmt, in der Türkei nicht leichter werden. Es gibt also keinen Grund für die internationale Gemeinschaft, die Hände in den Schoß zu legen. Solidarität und Unterstützung wird Pamuk auch weiterhin benötigen.
In Köln bekommt er sie. Pamuk erreicht den Sessel, setzt sich, schlägt das linke Bein über das rechte und legt sein Buch darauf. Die nächsten anderthalb Stunden werden seine Beine diese Stellung nicht mehr verlassen. Pamuk sitzt, zurückgelehnt, die rechte Hand spielt mit dem Kugelschreiber, während die Ellenbogen wie eingehakt auf den Sessellehnen liegen. Sie werden sich im Laufe des Abends nur zwei Mal vom Polstermöbel lösen.
Stillleben mit Autor und Sessel, wären da nicht die Hände des Pamuk. Während er zuhört, jonglieren seine feingliedrigen Finger den Kuli. Pamuk sitzt entspannt und tief im Sessel versunken - auch wenn er spricht. Dann aber fangen seine Hände an zu tanzen. Sie gestikulieren, malen in die Luft, ohne dass sich die Arme bewegen. Sein Wissen schüttelt er aus dem Handgelenk. Etwa dass der politische Roman der Türkei in den 1980er-Jahren gestorben sei. "Nicht weil die Mauer gefallen, die Sowjetunion nicht mehr existierte und es keine politischen Utopien mehr gab. Sondern weil die Haltung eines Schriftstellers, der sich über allen anderen sieht und der sich anmaßt, über alle Menschen von diesem hohen Sockel herab zu sprechen, gestorben ist. Dieser Mut und diese Anmaßung - sie sind tot." Dabei ballt sich seine Hand nicht etwa zur Faust, nein, es wirkt, als wiege er diese Aussage in seiner Hand, um ihre Wichtigkeit noch einmal zu prüfen.
Hände eines literarischen Arbeiters
Die Hände des Pamuk sind die Hände eines literarischen Arbeiters. Hände von einem, der den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt und schreibt. Ein Handwerker, der mit ruhiger Hand sensible Themen in der Türkei anpackt, um sein Land zu modernisieren. Vehement klopft er mit beiden Händen an die Tür Europas, weil er hofft, dass der Druck von außen noch mehr verändert. Die Kurdenproblematik, der Genozid an den Armeniern - Themen, die er sorgfältig befühlt und betastet, um sie zu verstehen, um sie zu begreifen. In den Schriftstellerhänden werden sie gedrückt, gepresst und geknetet, um dann im literarischen Text neu zusammengefügt und geglättet zu werden, sauber und liebevoll mit der Handkante.
"Warum ich meine Romane schreibe? Um zu entdecken wie seltsam, wie wunderbar und wie besonders jedes einzelne Leben ist. Dass es sehr kurz ist, sehr schön und dass man sich dem Leben mit großer Aufmerksamkeit nähern muss. Nichts anderes ist die Literatur" Und nichts anderes ist die Berufung von Orhan Pamuk, ist das wofür er zwei ganz besondere Händchen hat.