Wahltag im Irak
30. April 2014Für einen Tag ist die irakische Hauptstadt Bagdad zur Fußgängerzone geworden. Es herrscht Fahrverbot. Früh am Morgen gleicht die Sechs-Millionen-Metropole einer Geisterstadt. Höchstens ein Militär- oder Polizeifahrzeug ist zu sehen. Selbst der Flughafen ist für zwei Tage gesperrt. Gegen Mittag beleben sich die Straßen von Karrada, dem Geschäfts- und Einkaufsviertel am Ostufer des Tigris. Kinder spielen Fußball auf den leeren Fahrbahnen, fahren Fahrrad. Erwachsene gehen zum Wahllokal. Es sind die ersten Parlamentswahlen seit dem Abzug der US-Truppen Ende 2011, und es geht um "Tagheer", um Veränderung im Zweistromland.
Neuer Wohnort, alter Wahlbezirk
Amal Ibrahim ist schon am Tag zuvor von ihrem Wohnbezirk nach Karrada gekommen, um wählen zu gehen. Auf der Webseite der Wahlkommission hat die 44-jährige Irakerin ihren Namen in einem Wahllokal in Karrada entdeckt. Dort war sie registriert, bevor sie umzog und dort muss sie jetzt ihre Stimme abgeben. Wie Amal ergeht es vielen Menschen in Bagdad, die in den schlimmen Terrorjahren 2006/07 von einem Bezirk in den anderen ziehen mussten, weil Sunniten und Schiiten sich blutige Kämpfe lieferten.
Ursprünglich lebte Amal mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Dura, das sowohl von Schiiten, Sunniten als auch von Christen bewohnt wurde. Der Bürgerkrieg ließ viele Schiiten und Christen aus Dura wegziehen. In anderen Vierteln Bagdads war es umgekehrt.
Perfekter Wahlmodus
Amal ist aufgeregt, als sie das Wahllokal in einer Schule in Karradas Einkaufsstraße Dahel betritt. Obwohl nun schon die vierte Parlamentswahl nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 abgehalten wird, ist es doch ein Ereignis. "Am Anfang war Vieles noch improvisiert. Wir haben der Wahlkommission misstraut", sagt sie. Mittlerweile sei der Wahlmodus so perfektioniert worden, dass keine Fälschungen im Wahlprozess befürchtet werden.
Die Fälschungen spielten sich vor oder nach der eigentlichen Wahl ab, hört man von Vertretern verschiedener Allianzen und Parteien. Die Tatsache, dass die Sunnitenprovinz Anbar wegen der seit Monaten andauernden, erbitterten Kämpfen zwischen Regierungstruppen und der Terrororganisation ISIS - Islamischer Staat im Irak und Syrien - nicht wählt, bringe letztendlich eine Schieflage im Wahlergebnis.
Imame rufen zur Wahl auf
Anbar ist die flächenmäßig größte Provinz des Irak. Die meisten der auf 20 Prozent geschätzten sunnitischen Bevölkerung des Landes wohnen in den Städten Falludscha und Ramadi. Dass die irakische Armee mit insgesamt 1,5 Millionen Soldaten der Lage dort nicht Herr werde, spiele Premierminister Nuri al-Maliki in die Hände, mutmaßen Vertreter sunnitischer Gruppierungen. ISIS sei daher so etwas wie ein Handlanger für den Wahlerfolg des umstrittenen Premiers. Schließlich tue er alles dafür, um sich eine dritte Amtszeit zu sichern.
Nach dem Ende des Mittagsgebets in der Moschee füllt sich das Wahllokal in Karrada merklich. Die Imame haben die Gläubigen zum Urnengang aufgerufen. Anders als in den Wahlen zuvor, als sich die höchsten schiitischen Würdenträger mit politischen Äußerungen stets zurückhielten, haben sie dieses Mal deutlich zu verstehen gegeben, dass auch sie eine Veränderung wünschen. Ohne Namen zu nennen, verlautete kurz vor der Wahl aus Nadschaf, wo die höchste Instanz der Schiiten beheimatet ist, dass "diese Regierung versagt habe": Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption seien nicht bekämpft worden, sondern hätten zugenommen.
Stimmen für Maliki
Trotzdem haben viele Wähler in Karrada für Maliki gestimmt. Bereitwillig nennen sie ihre Gründe: Maliki sei ein starker Mann und er werde den Terror von ISIS bekämpfen, sagt der 56-jährige Hussein.
Andere nennen seine Verdienste aus der Vergangenheit für ihre Entscheidung Maliki zu wählen: das erfolgreiche Abkommen zum Abzug der amerikanischen Truppen, die Unterschrift unter die Exekution Saddam Husseins und die Vorzüge für die Familien für die von Saddam Hussein verfolgten und ermordeten Schiiten. Der schiitische Premier setzte durch, dass Schiiten beim Studium bevorzugt werden, sie in höhere Positionen gelangen, vergibt Kredite und finanzielle Unterstützung an Witwen und Kinder. Auch seine Rechtsstaatskoalition wirbt mit dem Slogan "Tagheer" - Veränderung, versteht allerdings etwas völlig anderes darunter als der Rest der Parteien. Er möchte die bisherige Einheitsregierung durch eine Mehrheitsregierung ersetzen, an der nicht mehr alle ethnischen und religiösen Gruppen Iraks proportional beteiligt sind.
Amals Wahlzentrum hat neun Wahllokale. Die Ernsthaftigkeit, mit der Wahlleitung und Wahlhelfer und die vier Beobachter in jedem Lokal den Prozess durchziehen, ist verblüffend. "Ich glaube, wir sind jetzt in der Demokratie angekommen", sagt ein Vertreter der Wahlkommission, der am Eingang steht und die Wahlberechtigten in die für sie bestimmten Zimmer weist.
Frauen beteiligen sich
Leila Alkhafaji ist Lehrerin in der Schule, wo die Wahl stattfindet und beobachtet den Ablauf für die "gelbe" Allianz, die angeführt wird durch den schiitischen Kleriker Ammar al-Hakim. Er gab sich im Wahlkampf betont modern und warb sogar mit unverschleierten Frauen auf seinen Wahlplakaten. Das war bei der letzten Wahl vor vier Jahren noch undenkbar. Die wichtigsten Herausforderer von Malikis Rechtsstaat-Bündnis sind die von religiösen Schiiten-Parteien dominierten Allianzen Al-Muwatin und Al-Ahrar. Zu den Kontrahenten zählen auch die Mutahidun-Liste des sunnitischen Parlamentspräsidenten Osama al-Nudschaifi und der Al-Watanija-Block.
Vor allem Frauen seien zum Wählen gekommen, berichtet Leila über den Verlauf der ersten Hälfte des Wahltags. Nicht nur das Wahlverhalten habe sich verändert, stellt die Beobachterin fest, die selbst ihre Haare unter einem Tuch verdeckt. Auch gesellschaftlich habe der Irak sich verändert. Die Frauen seien selbstbewusster geworden. Über 3000 Kandidatinnen bewerben sich um die 328 Sitze im nächsten Parlament, so viele wie nie zuvor.
"Die Menschen hier sind grundsätzlich viel bewusster geworden", hat auch Amal Ibrahim festgestellt. "Diejenigen, die zur Wahl gehen, wissen genau, wem sie ihre Stimme geben. Sie wählen nicht mehr nur nach ethnischen und religiösen Kriterien, wie am Anfang."
Keine Politik mehr vorbei am Bürger
Nach dem Sturz Saddam Husseins suchten viele ihre Identität in der Religion oder bei den Stämmen. Das breche jetzt auf, wenn auch nur langsam, sagt Amal. Aber der Trend zu politischen Programmen und konkreten Aussagen ist unverkennbar. "Die Leute fragen die Politiker jetzt, wofür sie stehen." Das sei ein Riesenschritt, meint Amal, die im Sekretariat des irakischen Ministerrates arbeitet. Das Regieren an den Menschen vorbei werde schwieriger.
Als die Wahllokale um 18 Uhr (Ortszeit) schließen, sind landesweit 24 Menschen ums Leben gekommen. 39 der insgesamt 8075 Wahllokale konnten aufgrund der schwierigen Sicherheitslage nicht geöffnet werden. Premierminister Nuri al-Maliki gibt sich siegessicher.