Kern-Debatte: Wie weiter mit EU und Türkei?
4. August 2016Der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, hat sich für eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen mit Ankara ausgesprochen. "Ich sehe nicht, dass es jetzt von Hilfe wäre, wenn wir einseitig der Türkei bedeuten würden, dass die Verhandlungen zu Ende sind", sagte Juncker laut vorab veröffentlichten Auszügen in einem Interview des deutschen Fernsehens.
Juncker: "Ein schwerwiegender außenpolitischer Fehler"
Einen Abbruch der EU-Verhandlungen mit der Türkei, für die sich Österreichs Bundeskanzler Christian Kern ausgesprochen hatte, müssten "alle Mitgliedsstaaten - und zwar einstimmig - beschließen", hob Juncker hervor. "Und diese Bereitschaft aller Mitgliedsstaaten sehe ich im gegebenen Moment nicht." Er persönlich hielte es "für einen schwerwiegenden außenpolitischen Fehler", wenn Ankara jetzt signalisiert würde, dass die EU in jedem Fall gegen einen Beitritt der Türkei sei.
Für den Kommissionschef ist nach eigener Aussage allerdings klar: "Die Türkei, in dem Zustand in dem sie jetzt ist, kann nicht Mitglied der Europäischen Union werden". Dies gelte insbesondere, "wenn sie das täte, was einige anmahnen, nämlich die Todesstrafe wieder einzuführen". "Dies hätte zur Folge den sofortigen Abbruch der Verhandlungen", warnte Juncker Ankara.
Er pochte auch auf die Bedingungen der EU für die Visa-freie Einreise von Türken. "Bedingungen sind Bedingungen, wir können nicht in Sachen Menschenrechtsfragen oder in Fragen Antiterrorgesetzgebung von unserem Standpunkt abrücken", so der Luxemburger. "Antiterrorgesetzgebung darf nicht missbraucht werden, um Journalisten, Akademiker und andere ins Gefängnis zu stecken, das geht mit uns nicht."
Kern: Thema beim nächsten EU-Gipfel ansprechen
Kern hatte zuvor einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen gefordert. Der sozialdemokratische Politiker kündigte an, das Thema am 16. September beim nächsten EU-Gipfel anzusprechen. Kern hatte im österreichischen Fernsehen gesagt, dass die Beitrittsverhandlungen eine "diplomatische Fiktion" seien. Eine Aufnahme der Türkei in die Union werde es auf Jahrzehnte nicht geben.
Den Ärger der türkischen Regierung bei einem Abbruch müsse die EU nicht fürchten, so Kern weiter. "Wir sind gegenüber der Türkei kein Bittsteller, wir sind einer der größten Investoren, der türkische Tourismus hängt an uns und was man nicht vergessen darf, der Westen finanziert das Leistungsdefizit der Türkei." Die Bedeutung der Regierung in Ankara bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise erwähnte der österreichische Regierungschef in diesem Zusammenhang allerdings nicht.
Berlin: No comment
Die Bundesregierung in Berlin wollte Kerns Äußerung nicht kommentieren, sondern verwies auf frühere Aussagen, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara ergebnisoffen geführt würden. Unterstützung erhielt der Wiener Regierungschef dagegen aus Bayern. Innenminister Joachim Herrmann verlangte ebenfalls ein Ende der Gespräche mit der Türkei.
Ein Land, das demokratische Werte so mit Füßen trete, könne nicht Mitglied der EU sein, sagte der CSU-Politiker der Deutschen Presse-Agentur (dpa) in München. "Die Entwicklungen, die Präsident Recep Tayyip Erdogan derzeit massiv vorantreibt, sprechen auch jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn. Es gibt so keine vernünftige Grundlage mehr für Beitrittsverhandlungen." Wer sich in dieser Art und Weise von den Grundsätzen einer freiheitlichen Demokratie entferne, treibe die Beitrittsverhandlungen selbst in die völlige Aussichtslosigkeit und ad absurdum, so Herrmann weiter.
Verhandlungen schon seit elf Jahren
Die EU und die Türkei verhandeln seit 2005 über einen Beitritt. Wegen der repressiven Reaktion der türkischen Regierung auf den Putschversuch hatten in den vergangenen Wochen viele europäische Politiker diese Verhandlungen in Frage gestellt. Allerdings gibt es auch die Befürchtung, dass Ankara das Flüchtlingsabkommen mit der EU platzen lassen könnte. Im Gegenzug für die Rücknahme von Flüchtlingen von den griechischen Inseln durch die Türkei hatte die EU die Visa-Freiheit in Aussicht gestellt. Voraussetzung dafür ist eine Änderung der weit gefassten Anti-Terror-Gesetzgebung in der Türkei.
sti/kle (dpa, rtr)