Künstliche Lungen
26. Februar 2016In seiner Hand hält Josué Sznitman eine durchsichtige Plastikscheibe, etwa fünf Zentimeter groß und ein paar Millimeter dick. Im Inneren verlaufen feine Kanälchen. Das Ganze sieht aus wie ein Baumstamm, der sich in mehrere kleinere Äste aufteilt.
"Man kann die kleinen Kanäle kaum sehen", sagt Sznitman, Juniorprofessor für Biomedizintechnik am Technion, der Technischen Universität Israels in Haifa. "Das ist nicht verwunderlich: Die Atemwege in unseren Lungen sind kleiner als ein Millimeter."
Die Scheibe, die Sznitman gerade hochhält, ist seine Version einer künstlichen Lunge. Zuerst sieht sie etwas enttäuschend aus - erst beim näheren Hinsehen wird es faszinierend.
Miniaturarbeit
Lungen im Labor zu erschaffen, bedeutet nicht, mit großen Gewebemassen herumzuhantieren, wie man es vermutlich in einem Science-Fiction-Film sehen würde. Stattdessen tauchen die Forscher in eine Welt des ganz Kleinen ab.
Menschliche Lungen bestehen aus vielen Millionen winzigen Atemwegen, die in mikroskopischen Luftbläschen enden. Dort findet der eigentliche Gasaustausch zwischen Lunge und Blut statt. Das Lungengewebe ist hauchdünn, seine Oberfläche hingegen riesig: Sie addiert sich zu etwa 100 Quadratmetern. Lungen sind im Grunde riesige Schwämme.
Die Kanälchen im Inneren von Sznitmans Plastikscheiben haben einen Durchmesser von nur 100 Mikrometer, also ein Zehntel eines Millimeters. In diesen Kanälen züchtet der Forscher Zellen. Ein hartes Stück Arbeit, wie er sagt: "Wir kämpfen ganz schön. Es ist wie ein Kochrezept: Es muss heranreifen." Aber es brauche auch ein gutes Quentchen Glück. Scherzhaft fügt er hinzu: "Die Sterne am Himmel müssen an dem Tag in der richtigen Konstellation stehen, damit es funktioniert. Meistens scheitern wir, aber hin und wieder klappt es."
Der junge Wissenschaftler ist ehrgeizig. Sein Ziel: im Labor eine Lunge zu erschaffen, die die Wirklichkeit möglichst genau abbildet.
Bessere Medikamente
Momentan sei die menschliche Lunge eine "black box" für Ärzte, so nennt Sznitman es. "Man kann nicht zu seinem Arzt gehen und sagen: Ich hab Schwierigkeiten beim Atmen, können Sie mir sagen, welcher Teil meiner Lunge nicht gut Luft bekommt?" Trotz Röntgenstrahlen und Spirometrie - einer Technik, die die allgemeine Lungenfunktion misst - wissen wir noch sehr wenig über die Lunge, sagt Sznitman.
Umso schwieriger ist es für Forscher, Medikamente zu entwickeln, die eingeatmet werden müssen. Für Asthmapatienten beispielsweise: Ihre Luftwege sind chronisch entzündet und die Muskeln ziehen sich oft zusammen - das macht ihnen das Atmen schwer oder sogar unmöglich. Asthmapatienten inhalieren daher Medizin, die die Krämpfe löst oder die Entzündung auf lange Sicht bekämpft.
Laut Sznitman "leistet die heutige Technik furchtbar schlechte Arbeit" wenn es darum geht, diese Medikamente in die Lunge zu bekommen. "Wenn ein Arzt einem 3-jährigen Kind ein Medikament zum Einatmen gibt - selbst wenn er dafür eine Atemmaske benutzt -, dann gehen gerade mal 5 oder 10 Prozent davon in die Lunge." Bei Erwachsenen seien es etwa 50 Prozent. "Ein Großteil des Medikaments kommt also gar nicht dahin, wo es gebraucht wird."
Dasselbe gilt auch für Menschen mit Mukoviszidose, einer Erbkrankheit, die unter anderem die Lunge betrifft. Die Patienten haben Schwierigkeiten zu atmen und leiden an häufigen Lungeninfektionen. Sie müssen Antibiotika einatmen. Sznitmans Forschung soll dabei helfen, diese Patienten in Zukunft effizienter und einfacher behandeln zu können.
Aufgeklappte Lungenbläschen
Claus-Michael Lehrs künstliche Lunge sieht ein bisschen anders aus. Sein Labor an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken züchtet Lungenzellteppiche auf Membranen. "Unsere Lungen sind mehr oder weniger aufgeklappte Lungenbläschen", erklärt er. Das Lungengewebe erhält er aus Operationssälen, etwa wenn einem Patient ein Tumor entfernt wurde. Die menschlichen Lungenbläschen fixiert er dann auf Membranen von der Größe einer Postkarte.
Während Sznitman in Israel erforscht, wie sich Substanzen in die Lunge befördern lassen, ist Lehr mehr daran interessiert, die Substanzen von der Lunge ins Blut zu bekommen. "Wie die Blut-Hirn-Schranke gibt es eine Barriere zwischen Lunge und Blutsystem - die Luft-Blut-Schranke", sagt Lehr. Die macht Aerosolen - auch Medikamenten - den Übergang schwer. Mit seinen Lungenzellmembranen stellt der Pharmazeut die Barriere im Labor nach - und untersucht, wie sie sich überwinden lässt.
Lehr hofft, dass es damit auch möglich wird, Medikamente so zu verändern, dass sie inhaliert statt gespritzt werden müssen. Insulin zum Beispiel: Das kann die Darmwand nicht passieren, daher lässt es sich nicht in Tablettenform verabreichen. Aber möglicherweise lässt sich ein Insulinspray auf Nanopartikelbasis entwickeln, dass die Blut-Luft-Schranke überwinden kann. Das tägliche Spritzen würde dann für Diabetiker entfallen.
Sznitman und Lehr haben jetzt Forschungsgelder beantragt, um gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Sie hoffen, dass ihre Forschung dazu beitragen wird, das schwammige komplexe Organ Lunge ein bisschen besser zu verstehen. Aber Josué Sznitman ist sich bewusst, dass seine künstliche Lunge immer noch weit von der Wirklichkeit entfernt ist. "Wir bilden vielleicht einen Bruchteil der Realität nach, aber nichts, was der vollen Komplexität nahe kommt. Für mich als Forscher ist das oft schwer zu akzeptieren."