Die Protestbewegung gibt nicht auf
24. Juni 2013Sechs Tage herrschte weitgehend Ruhe auf dem Taksim-Platz in Istanbul - erzwungen vor allem durch massive Präsenz der türkischen Polizei. Doch seit Samstagabend ist es vorbei mit dem trügerischen Frieden: Erneut gingen die Einsatzkräfte mit Wasserwerfern und Tränengas gegen Demonstranten vor, die sich zu einer Gedenkfeier auf dem Platz eingefunden hatten.
Mit roten Nelken in den Händen wollten die Versammelten an die vier Opfer erinnern, die bislang während der Proteste ums Leben gekommen sind. Mittels Twitter und Facebook organisierte sich erneut eine Großdemonstration, mit Teilnehmern aus allen Altersschichten. Auch Kinder und Rollstuhlfahrer waren auf dem Taksim-Platz zu sehen.
Die Polizei forderte die Menschen zunächst auf, sich zurückzuziehen. Schließlich intervenierte die Polizei nach rund einer Stunde mit Wasserwerfern und Tränengas. "Verratet eure Leute nicht!", riefen die Demonstranten den Einsatzkräften zu und bewarfen sie mit ihren Blumen.
"Wir haben keine Angst"
Zuvor hatten sie Premierminister Erdogan lautstark gewarnt: "Das ist nur der Anfang, der Kampf geht weiter!" oder "Der Tag wird kommen. Wir werden Fragen stellen. Die AKP wird zur Rechenschaft gezogen!", riefen die Menschen als Reaktion auf die Polizeigewalt vom vorangegangenen Wochenende und die Drohungen Erdogans, dass künftig jeder Demonstrant auf dem Taksim-Platz wie ein "Terrorist" behandelt werde. "Wir sind keine Terroristen, wir sind das Volk. Wir demonstrieren und tun so viel wie möglich für Taksim", sagte ein Demonstrant der Deutschen Welle.
"Sie dachten, dass sie die Menschen einschüchtern und zum schweigen bringen können, aber sie können es nicht. Die Menschen zeigen, dass sie keine Angst haben", betonte eine Demonstrantin im Gespräch mit der DW. Die Menschen seien außerdem inzwischen an die Reden des Premiers und an die Polizeigewalt gewöhnt, meinte eine andere Frau kurz vor dem Polizeieinsatz: "Wir können uns denken, was passieren wird. Ich habe keine Angst. Je mehr wir sind, desto mehr Zuversicht haben wir."
Erdogan spaltet weiter
Die Proteste werden als Zeichen für die Spaltung der türkischen Gesellschaft gewertet. Erdogan stützt sich vor allem auf religiöse Konservative, während sich liberale Türken den Protesten angeschlossen haben. In der türkischen Stadt Samsun hatte Erdogan am Samstag erneut eine Kundgebung organisiert - unter dem Motto "Respektiere den Willen der Nation". In seiner Rede vor rund 15.000 Anhängern setzte der türkische Premier erneut auf religiöse Argumente, um die Protestbewegung zu diskreditieren.
"Lasst sie in ihren Schuhen in unsere Moscheen gehen, lasst sie Alkohol in unseren Moscheen trinken, lasst sie ihre Hände gegen unsere Mädchen in Kopftüchern erheben. Ein Gebet unserer Leute reicht aus, um ihre Pläne zu durchkreuzen", sagte Erdogan und machte erneut in- und ausländische Kräfte für die Proteste verantwortlich. Profitiert hätten "die Zinslobby, die Feinde der Türkei", meinte der Regierungschef in Anspielung auf die Kurseinbrüche an der türkischen Börse. Die türkische Wirtschaft sei dagegen der Verlierer.
Alternative Protestformen
Auf die gewaltsame Räumung von Gezi-Park und Taksim-Platz am vorherigen Wochenende hatte die Protestbewegung eine Woche lang mit stillen Stehdemonstrationen geantwortet. Eine alternative Form des Widerstands, die ein junger Mann Anfang der Woche ins Leben gerufen hatte. Immer wieder standen die Menschen überall im Land für fünf Minuten still. Andere versammelten sich täglich auf dem Taksim-Platz, um stundenlang schweigend in der prallen Sonne und bis spät in die Nacht auszuharren. Die Protestbewegung, die vor allem mehr Freiheit und mehr Demokratie fordert, wich zudem in zahlreiche Istanbuler Stadtparks aus und verwandelte sie in Foren für politische Diskussionen.
"Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei erleben die Menschen die lokale Demokratie", so der Soziologe und Politologe Yasar Adanali im DW-Gespräch. Die Menschen hätten angefangen, die öffentlichen Plätze zu nutzen, um offen und frei über ihre Ideen zu sprechen, so Adanali. Allerdings gelte das nur für die Zivilbevölkerung. "Unternehmen und Medienhäuser wurden bedroht", so Adanali. Vor allem Geschäftsmänner und Politiker hätten mehr Angst als der Rest der Bewegung.