"Die Türkei wird zum wichtigeren Herkunftsland"
5. August 2016DW: Herr Habbe, die Asylanträge aus der Türkei sind gestiegen,das berichtet der "Tagesspiegel" unter Berufung auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Während im gesamten vergangenen Jahr 1719 Türken in Deutschland Asyl beantragten, sind es dieses Jahr allein in den ersten sechs Monaten schon 1767. Woran liegt das?
Heiko Habbe: Das ist erst einmal noch keine besorgniserregende Entwicklung - angesichts einer Gesamtzahl von 800.000 Asylanträgen im letzten Jahr und 200.000 im Jahr davor. Aber natürlich ist die Sorge da, dass die Zahlen etwas mit der Entwicklung der innenpolitischen Situation in der Türkei zu tun haben: Von dem Wiederaufflammen des Kurdenkonflikts, der von der türkischen Regierung - soweit man das beurteilen kann - absichtlich wieder hochgefahren wurde, bis hin zu den massenhaften Verhaftungen nach dem jüngsten Putschversuch.
Noch kann das BAMF keine Aussage darüber treffen, inwiefern sich die Lage seit dem Putschversuch im Juli auf die Asylanträge aus der Türkei auswirken wird. Wann wird die jetzige Situation sich in den Asylanträgen widerspiegeln?
Das ist schwer zu sagen. Was uns Sorge machen muss, ist, dass die Türkei wieder zu einem der wichtigeren Herkunftsländer wird. Nachdem die Türkei jahrelang in den Statistiken des BAMF nicht mehr aufgetaucht ist, war sie im ersten Quartal dieses Jahres wieder unter den 15 zugangsstärksten Herkunftsländern. Es handelt sich hier um ein Land, das eigentlich als EU-Beitrittskandidat gilt. Hier muss man fragen: Haben die EU und die deutsche Bundesregierung es versäumt, auf eine Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei zu drängen?
Trotz der gespannten Situation im Südosten der Türkei ist die Anerkennungsquote bei Asylanträgen deutlich gesunken. Dem "Tagesspiegel" gegenüber sprach das BAMF von 5,2 Prozent positiver Bewertungen von Asylgesuchen kurdischer Türken. Im Vorjahr seien es 14,7 Prozent gewesen. Wie erklären Sie sich das?
Dass die Zahl sinkt, kann ich nicht feststellen, weil für die letzten Jahre keine Anerkennungsquoten für die Türkei veröffentlicht wurden. Im ersten Quartal 2016 lag die bereinigte Gesamtschutzquote für Asylbewerber aus der Türkei insgesamt noch bei 14,5 Prozent.
Selbst wenn man von knapp 15 Prozent ausgeht, bleibt die Abschiebequote relativ hoch. Ist die politische Situation in der Türkei tatsächlich so, dass Kurden nicht mehr auf den Schutz anderer Länder angewiesen sind?
Die innenpolitische Situation in der Türkei ist vielschichtig. Was allerdings schon immer für Kritik gesorgt hat, ist ein bestimmtes Argument des Bundesamtes. In der Vergangenheit hieß es häufig: Ein kurdischer Asylbewerber mag zwar von den Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei betroffen sein, diese sind aber regional begrenzt. In Istanbul kann er vollkommen sicher leben, braucht also keinen Schutz in Deutschland. Betroffene bestritten das oft. Sie berichteten, dass sie auch an anderen Orten in der Türkei wegen ihrer Herkunft diskriminiert und attackiert wurden.
Wie kommen solche Lagebeurteilungen zustande, auf deren Grundlage entschieden wird, ob Menschen, die aus bestimmten Ländern fliehen, Schutz in Deutschland zusteht oder nicht?
Das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte stützen sich überwiegend auf die Lageberichte des Auswärtigen Amtes. Die sind als Quelle nicht unumstritten. Zwar sind die Berichte sehr detailliert, geben aber auch die Sicht des Auswärtigen Amtes wieder, die manchmal von diplomatischen Rücksichtnahmen geprägt zu sein scheint. Wenn man stattdessen die Berichte von Amnesty International oder Human Rights Watch liest, findet man oft viel besorgniserregendere Einschätzungen. Die wiederum zieht das Bundesamt nicht sehr intensiv zu Rate.
Kritisieren Sie das?
Es ist zumindest kein Zufall, dass die Entscheidungen des Bundeamtes für eine Ablehnung von Asylbewerbern später in erheblicher Anzahl von Gerichten wieder korrigiert werden.
Können die deutschen Behörden allgemein schnell genug auf veränderte politische Situationen reagieren - wie sie beispielsweise nach einem Putschversuch entstehen?
Oft wird nicht schnell darauf reagiert, weil natürlich erst einmal abgewartet werden muss, wie sich die Lage entwickelt und Fakten für neue Berichte gesammelt werden müssen. Wenn sich die politische Lage in der Vergangenheit sehr schnell veränderte, hat das Bundesamt seine Verfahren vorübergehend ausgesetzt. Das war beispielweise der Fall, als die Taliban in den 90er Jahren in Afghanistan rapide an Einfluss gewannen. Damals wollte man abwarten, ob sich daraus eine neue staatliche Ordnung ergibt.
Was bedeutet das dann konkret für die Asylbewerber?
Die Verfahren liegen dann monatelang oder noch länger auf Eis. Die Menschen leben also in Unsicherheit und wissen nicht, ob sie hier anerkannt werden oder nicht. Das ist sehr belastend.
Heiko Habbe ist Rechtsanwalt und auf Asyl-, Aufenthalts- und Antidiskriminierungsrecht spezialisiert.
Das Interview führte Nina Niebergall.