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"Die Ungarn waren 1956 Helden"

Wolfgang Dick
31. Oktober 2016

Der Volksaufstand in Ungarn wurde in den ersten Novembertagen vor 60 Jahren von den Sowjets beendet. Mit Folgen bis heute, wie der Schriftsteller und Historiker György Dalos im DW-Gespräch erläutert.

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Ungarn-Aufstand im Herbst 1956
Bild: Picture-Alliance

Deutsche Welle: 1956 flohen rund 200.000 Menschen aus Ungarn ins europäische Ausland und wurden dort aufgenommen. Heute, 60 Jahre später, schottet Viktor Orban Ungarn gegen Flüchtlinge ab - trotz der historischen Erfahrungen. Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?

György Dalos: 1956 rebellierte die ungarische Gesellschaft gegen die stalinistische Herrschaft mit dem Ziel, eine minimale nationale Unabhängigkeit wiederzugewinnen und menschlichere und sozialere Formen des Sozialismus zu erkämpfen. Das wurde damals von westlicher Seite sehr begrüßt - es herrschte immerhin noch der Kalte Krieg, und jede Rebellion im Osten war ein Plus für den Westen. Nicht nur Politiker, sondern die ganze westeuropäische Gesellschaft hat die Ungarn sehr gut aufgenommen. Es gab 1956 sogar Sammlungen an westlichen Schulen, weil man Ungarn als Lichtpunkt betrachtete. Die Ungarn waren die Helden und die Freiheitskämpfer, der Aufstand erfolgte ganz im Zeichen der europäischen Zugehörigkeit. Die Ungarn wiederum dachten nicht daran, dass der zivilisierte Teil Europas Schulden zu tilgen hatte gegenüber den Völkern, denen das schlechtere Schicksal passierte, weil sie im sowjetischen Einflussbereich leben mussten. So verlief die Integration der ungarischen Flüchtlinge größtenteils positiv.

Nach Ihren Ausführungen müsste doch gerade deshalb die ungarische Regierung heute Flüchtlingen helfen. Warum passiert das nicht?

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Dalos: 1956 waren alle Widerständler dem Westen willkommenBild: picture alliance / dpa

Ja, Ungarn wäre rein moralisch gesehen dazu verpflichtet. Aber Orban denkt anders. Es ist aber auch nicht so, dass die ganze ungarische Gesellschaft so denkt wie er. Und die Art und Weise, wie er sich gegenüber der Flüchtlingswelle verhält, hat sehr wenig mit Ungarns Interessen zu tun. Erstens wollen diese Flüchtlinge gar nicht in Ungarn bleiben. Ungarn ist für sie reines Transitland. Und zweitens hat Ungarn sehr viel finanzielle Hilfe von der EU erhalten. Ich glaube nicht, dass man das einfach so annehmen, aber den Verpflichtungen dann nicht nachkommen kann. 

Orban hat mit dieser Hasskampagne gegen die Flüchtlinge seit zumindest eineinhalb Jahren eher ein Mittel der Innenpolitik eingesetzt. Er möchte die Nation aufrütteln, um seine Macht auszubauen. Und um die Einheit der Nation zu schaffen, braucht er ein Feindbild. Schon vor Orban hatte die radikale Rechte vor allem die Roma als Feindbild betrachtet. Jetzt sind es einerseits die Flüchtlinge und andererseits ist es die EU. Orban warnte in einer Rede zur Erinnerung an den Ungarn-Aufstand vor einer "Sowjetisierung von Brüssel". Die Parallele, der Vergleich Brüssels mit Moskau, gehörte früher zum Vokabular der extremen Rechten, der Faschisten. Es geht also vorwiegend darum, vermeintlich nationale Interessen gegenüber der Europäischen Union durchzusetzen, die Ungarn etwas Ungewolltes aufzwingen will.

Was halten Sie denn von diesem Vergleich?

Wir können natürlich die EU kritisieren. Wir können auch die Flüchtlingspolitik der EU und die politischen Entscheidungen in Deutschland kritisieren, aber das ist Kritik. Aber man kann keine Vergleiche anstellen mit einem diktatorischen System, das seine Weltanschauung Dutzenden anderen Ländern aufgezwungen hat. 

Was steckt dann wirklich hinter dem, was Orban mit dem "Bollwerk gegen Muslime" in Ungarn will?

Es ist das Spiel mit historischen Ängsten. In der Vergangenheit standen Ungarn und einige weitere Länder im Osten im 16. Und 17. Jahrhundert über hundert Jahre lang teilweise unter osmanischer Herrschaft. Aber diese Herrschaft hat nicht nur negative Wirkung gehabt. Das Osmanische Reich hat niemanden zum Islam gezwungen. Das ist doch die historische Romantik, mit der hier gespielt wird. Das ist doch nicht Ungarns wirkliches Problem. Ungarns wirkliches Problem ist, dass trotz des enormen Reichtums einer dünnen Schicht von Geschäftsleuten und Politikern die Armut nicht kleiner geworden ist. Hinzu kommt die schlechte Situation im Gesundheits- und Schulwesen. Und da sind noch die ungarischen Wirtschaftsflüchtlinge. In den letzten sieben bis acht Jahren haben an die 500.000 mehrheitlich junge Staatsbürger das Land verlassen, weil sie keine angemessene Arbeit fanden. Jetzt rühmt sich die Regierung, dass wir nur vier bis fünf Prozent Arbeitslosigkeit haben. Jetzt wird einfach eine nationalistische, larmoyante Kampagne gemacht, nicht zuletzt, um den wirklichen Problemen der ungarischen Gesellschaft aus dem Wege zu gehen.

Europa Parlament: Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban
Proteste im Europaparlament gegen Victor Orbans MediengesetzeBild: AP

Was würde denn helfen, Orban von seinem Kurs abzubringen?   

Das Problem ist, dass Europa nicht ein einheitliches Denken und Handeln aufzeigt. Es gibt oft nicht einmal einen Minimalkonsens. Die EU müsste geschlossener auftreten und vor allem etwas mehr davon wissen, was die innereuropäischen Probleme sind. Immerhin kommen viele Länder - neben Ungarn auch Griechenland, Portugal, Spanien - aus ehemals diktatorischen Verhältnissen und haben daraus resultierend heute immer noch Probleme, die skandinavische Länder nicht kennen.

Geld zu geben im Sinne von Subventionen ist zwar theoretisch hilfreich, aber man muss immer aufpassen, wer dieses Geld hat. Wenn man sich in Ungarn die mafiösen Strukturen ansieht, kann man das Geld auch aus dem Fenster werfen. Die wirkliche Kontrolle in einem Land hängt einfach davon ab, wie die politische Zusammenarbeit passiert, und hier, denke ich, bräuchte es einen neuen europäischen Kongress.

Inwieweit spielt der ungarische Aufstand im kollektiven Gedächtnis des heutigen Ungarn überhaupt noch eine Rolle ?

Das ist wie immer bei großen Revolutionen und Ereignissen. Zum einen gibt es eine Ritualisierung. Da gibt es formal große Feierlichkeiten, die aber eher das heutige System legitimieren. Das ist eine schlechte Tradition. Das andere ist, dass die Ungarn unfähig sind, diesen Gedenktag gemeinsam zu feiern. Sie feiern nach Parteien, aber nicht gemeinsam. Nicht einmal die Opposition feiert gemeinsam. Das gilt auch für andere Gedenktage. 1989 zum Beispiel war ein Signal der demokratischen Erneuerung, spielt aber heute nicht mehr diese Rolle.

Und heute fragt man sich, was die junge Generation noch über den Ungarn-Aufstand weiß. Von den Schulbüchern kann man kaum etwas lernen, und die historische Vermittlung der Ereignisse ist äußerst schwierig. Die Historiker arbeiten daran. Die Archive sind offen, und man kann alles lesen, aber wie vermittelt man jungen Menschen, die mit Internet und iPhone aufgewachsen sind, was 1956 zum Beispiel eine Radiosendung bedeutet hat. Vielleicht könnten Künstler, Filmemacher oder Schriftsteller etwas mehr für die Erinnerung tun. Sonst gibt es einfach nur eine Feier und danach wieder grauen Alltag.

György Dalos ist ungarischer Schriftsteller und Historiker. An der Universität Bremen war er Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa. Zu seinen Veröffentlichungen zählt auch "1956. Der Aufstand in Ungarn."

Das Interview führte Wolfgang Dick.