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Die unsichtbaren Opfer von Krieg und Erdbeben in Syrien

Cathrin Schaer | Omar Albam (Syrien)
6. August 2023

Rund ein Drittel der syrischen Bevölkerung hat schätzungsweise irgendeine Form von Behinderung - manchmal auch solche, die nicht sichtbar sind. Der Krieg und das jüngste Erdbeben haben die Zahlen steigen lassen.

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2022 Syrien Maaret Misrin | Behinderte Person mit Rollstuhl in einem Zeltlager während Eid al-Adha
Laut UN-Studien hat fast jeder dritte Syrer eine BehinderungBild: Omar Haj Kadour/AFP/Getty Images

Familie Al-Hassan in Syrien ist bereits zweimal Opfer russischer Streubomben geworden - und beide Male mit schrecklichen Folgen. Beim ersten Mal, erzählt Abd al-Hadi Miteb al-Hassan der DW, wurde sein Vater bei einem Luftangriff auf ein Lager für Vertriebe im von der Opposition kontrollierten Idlib getötet. Die Familie stammt ursprünglich aus einem Gebiet in der Nähe der zentralsyrischen Stadt Hama, ist aber während des Krieges in den von oppositionellen Kräften kontrollierten Norden umgezogen. Beim zweiten Mal spielten die beiden kleinen Schwestern von Abd al-Hadi Miteb al-Hassan gerade außerhalb des Lagers, als die Überreste einer Streubombe explodierten.

"Rua hat ein Auge verloren und Doaa ihre Hand", sagt der 23-Jährige. "Wir haben sie in ein Krankenhaus in Idlib gebracht, und ich bin einen Monat lang bei ihnen geblieben.

Das war vor etwa 16 Monaten. Jetzt versuchen die beiden Mädchen im Alter von 9 und 10 Jahren, trotz ihrer Verletzungen ein normales Leben zu führen. Aber das ist unfassbar schwierig, sagt Al-Hassan. "Zusätzlich zur Amputation ihrer Hand hat Doaa Probleme mit ihrem Bein", erklärt der Bruder der Mädchen. "Sie brauchen beide besondere Pflege, aber hier gibt es nichts für sie. Es liegt alles an mir und unserer Mutter. An vielen Tage ist es so hart, vor allem, weil wir in Zelten leben und es so heiß ist."

Wie viele Menschen haben eine Behinderung?

Nach Zahlen, die die Vereinten Nationen im Jahr 2021 erhoben haben, haben nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg rund 28 Prozent der syrischen Bevölkerung, die älter als zwei Jahre sind, irgendeine Form von Behinderung.

Syrien Rudko Camp 2022 | Doaa al-Hassan
Doaa al-Hassan verlor vor über einem Jahr ihre HandBild: Omar alBam/DW

In Teilen Nordsyriens sind die Zahlen noch höher. Die Region, in der die Al-Hassan-Schwestern leben und die von Oppositionskämpfern kontrolliert wird, ist besonders von humanitärer Hilfe abhängig, und es fehlt an medizinischen Einrichtungen. Nach Angaben der Vereinten Nationen haben etwa 37 Prozent der Bevölkerung im Nordosten Syriens Behinderungen.

"Die Statistik ist nicht nur wegen des Krieges so hoch", sagt Emina Cerimovic, leitende Forscherin für Behindertenrechte bei Human Rights Watch, die 2022 an einem Berichts zu dem Thema mitgearbeitet hat. "Es geht nicht nur darum, dass jemand erschossen oder beim Beschuss verletzt wurde, sondern auch darum, dass es an medizinischer Versorgung und anderen Dienstleistungen mangelt. All das hat dazu geführt, dass viele Kinder und Erwachsene eine Behinderung haben, die sie sonst nicht hätten."

Einige Hilfsorganisationen, mit denen die DW gesprochen hat, gehen sogar davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Behinderten noch höher ist, als die UN-Erhebung von 2021 vermuten lässt. "Damals wurden nicht alle gezählt. Die verwendete Methodik berücksichtigt keine psychischen Probleme oder psychosozialen Behinderungen", so Cerimovic weiter. "Wir befürchten daher, dass die Zahlen noch höher sind."

Die Zahlen seien auch nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien im Februar dieses Jahres gestiegen, bestätigt Myriam Abord-Hugon, Leiterin des Syrien-Reaktionsteams der Hilfsorganisation Handicap International.

Anstieg der Behinderung durch bewaffneten Konflikt und Erdbeben

"In Syrien war es in den Tagen nach dem Erdbeben schwierig, medizinische Versorgung zu erhalten. Die Krankenhäuser waren völlig überlastet", erinnert sie sich. "Sie waren nicht in der Lage, alle Menschen angemessen zu versorgen. Ich kann zwar nicht sagen, wie hoch der Prozentsatz jetzt [in Nordsyrien] ist, aber er wird auf jeden Fall viel höher sein als zu Beginn des Jahres."

Das bestätigt auch Mohamed al-Mahmoud, Leiter des in Idlib ansässigen Syrian Network for Disability (SND). "Seit dem Erdbeben gibt es mehr Fälle", sagt er. Vor allem hätten einige Verletzungen zu Amputationen geführt. "Davon sind auch Kinder und Frauen betroffen."

Zerstörte Gebäude und Suche nach Opfern und Überlebenden des Erdbebens im Februar 2023 in Syrien
Nicht nur im Krieg, sondern auch durch das Erdbeben im Februar 2023 haben mehr Menschen in Syrien eine BehinderungBild: WFP/Photolibrary

Vor allem bewaffnete Konflikte führen zu neuen Behinderungen und verschärfen die bestehenden Barrieren für Menschen mit Behinderungen" heißt es in der Zeitschrift International Review of the Red Cross vom November 2022, die sich speziell mit "Menschen mit Behinderungen in bewaffneten Konflikten" befasst. Aber das Gebiet ist noch nicht weit genug erforscht, heißt es darin weiter.

Zu wenig Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung in Syrien

Emine Cerimovic von Human Rights Watsch sagt, dass Behinderten in Syrien in letzter Zeit nicht mehr so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde – zum einen, weil der Konflikt schon so lange anhalte und kein Ende in Sicht sei, zum anderen aber auch, weil es immer wiederkehrende Probleme gebe.

Das Thema Behinderung werde zwar verdrängt, hat aber erhebliche Auswirkungen auf die soziale und wirtschaftliche Landschaft des Landes, sind sich Cerimovic und Abord-Hugon einig.

Forscher des britischen Institute of Development Studies sagen, es gebe keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen mit Behinderungen es in Syrien vor Beginn des Krieges 2011 gegeben hat, da "es keine systematischen Erhebungen gibt, negative soziale Stigmata fortbestehen, die die Offenlegung von Behinderungen verhindern, und es generell schwierig ist, Behinderungen zu bewerten". Sie kommen daher zu dem Schluss, dass die Zahl der Behinderten zwischen acht Prozent der Bevölkerung und 15 Prozent liegen könnte – und das gilt weltweit als Durchschnitt.

Eine andere Zukunft für ein Drittel der Syrer

Die gestiegene Anzahl von Menschen mit Behinderung in Syrien bereitet vielen Sorge. "Es ist auch eine Frage des Selbstwertgefühls. Diese Menschen befürchten, dass sie nutzlos sind, dass sie von ihren Familien abhängig sind oder dass sie ihre Familien nicht unterstützen können. Es gibt also sowohl hohe psychologische Auswirkungen als auch hohe wirtschaftliche Kosten", sagt Abord-Hugon von Handicap International.

Mahmoud vom SND berichtet, seine Organisation kenne Fälle von Menschen mit Behinderungen, die sich aufgrund negativer Reaktionen ihrer Eltern oder unangemessener sozialer Reaktionen zurückgezogen hätten. Er und seine Kollegen versuchten, dieser Entwicklung mit Aufklärung entgegenzuwirken.

Einige andere Untersuchungen zu Syrien belegen, dass durch behinderte Familienmitglieder die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, arbeitslos zu werden oder die Schule abzubrechen. Und das bedeutet meist, dass die Haushalte weniger in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse zu decken.

Syrien Rudko Camp 2022 | Rua al-Hassan & Doaa al-Hassan mit FreundInnen
Die Schwestern Rua und Doaa al-Hassan versuchen, ein normales Leben zu führen, nachdem sie vor gut einem Jahr durch herumliegende Streumunition verletzt wurdenBild: Omar alBam/DW

Die Verwandten von Fatima al-Abdullah zum Beispiel machen sich zunehmend Sorgen, was mit ihr geschehen wird. Ihr Vater und ihr Bruder kamen bei dem Erdbeben im Februar ums Leben, ihre Mutter und weitere Geschwister wurden verletzt. Die 15-jährige Al-Abdullah ist jetzt querschnittsgelähmt und wurde in dem von der Syrian American Medical Society betriebenen Krankenhaus in Idlib kostenlos an der Wirbelsäule operiert.

"Aber es kommen noch weitere Kosten auf uns zu ", sagt die Tante des Teenagers, Munira Um-Mohammed. "Sie braucht weitere Operationen und auch psychologische Betreuung. Sie hat ihr Zuhause und ihre Familie verloren, und es gibt niemanden, der für diese Kosten aufkommt. Wir wissen nicht, wie wir das schaffen sollen."

"Es gibt eine ganze Generation von Kindern, die ohne die richtige Betreuung aufwächst, und es wird für sie höchstwahrscheinlich schwieriger sein, später im Leben erfolgreich zu sein", fügt Cerimovic hinzu.

Mehr soziale Eingliederung für Menschen mit Behinderungen

Raya al-Jadir, eine im Irak geborene Forscherin und Verfechterin der Rechte von Menschen mit Behinderungen, sagt, dass es noch viel zu tun gebe , wenn es um die Rechte und die Achtung von Menschen mit Behinderungen in der Region und darüber hinaus geht. Es gehe darum, die Sichtweise zu ändern und von der Fürsorge für Behinderte zur Wahrung ihrer Rechte überzugehen, sagt sie.

In einigen Teilen Syriens kennt inzwischen jede Familie jemanden mit einer Behinderung, so Abord-Hugon. Die Menschen wüssten, dass eine Behinderung nichts mit Gottes Willen oder Schicksal zu tun hat. Dadurch könne die soziale Eingliederung von Menschen mit Behinderungen möglicherweise verbessert werden.