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Die vergessene Geschichte von Haifa

Cornelia Rabitz5. Dezember 2012

Die israelische Historikerin Yfaat Weiss erhält den Hannah-Arendt-Preis: Für ihren vorurteilslosen Blick auf die Geschichte ihres eigenen Landes. Ihre Forschung interessiert auch in Deutschland.

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Blick auf die israelische Hafenstadt Haifa, aufgenommen am 08.03.2010. Foto: Carsten Rehder dpa
Blick auf die israelische Hafenstadt HaifaBild: picture-alliance / dpa

Ein ödes Ruinenareal in Haifa – so etwas wie eine offene Wunde, ein Geschichtszeichen, fast ein Mahnmal. Im kollektiven Gedächtnis des Landes ist dieser Ort als ehemaliges Armenviertel Wadi Salib verankert. Dort kam es 1959 zu Protesten und Unruhen: soziale Spannungen angesichts ungleicher Lebensverhältnisse entluden sich zwischen verschiedenen ethnischen Gruppierungen. Dass dieses Stadtviertel noch eine andere Geschichte hatte, war schon damals in Vergessenheit geraten. Heute weiß man: Nur wenige Jahre vorher war Wadi Salib ein rein arabisches Viertel.

Yfaat Weiss: Sie bekommt dieses Jahr (2012) den Hannah-Arendt-Preis; Copyright: HIS Verlag
Die Historikerin Yfaat WeissBild: HIS Verlag

Die Geschichte dieses Stadtteils, seine Transformation, seine verschütteten Erinnerungen haben Yfaat Weiss, die selbst in Haifa geboren wurde, fasziniert. Sie hat Archive durchforstet, Spuren gesucht, wie eine Archäologin Bruchstücke gefunden und frei gelegt, und schließlich ein in Israel verdrängtes, tabuisiertes Kapitel ans Licht gehoben. Darin geht es um heute noch aktuelle Themen wie Vertreibung, Krieg und Enteignungen. Und um die sehr komplexe, keineswegs linear verlaufene Geschichte dieses Landes.

Klassenkampf in Israel

Sommer 1959. Der Staat Israel ist noch jung, eine Gesellschaft im Aufbau, in der es Spannungen gibt. Eine Kneipenschlägerei in Haifa wird zum Auslöser für Straßenschlachten und Krawalle. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen den armen jüdischen Flüchtlingen aus orientalischen Ländern und den aus Europa stammenden Eliten: Klassenkampf in einer Stadt mit einer wechselvollen Geschichte. Denn 1948 schon waren im gleichen Stadtbezirk alle arabischen Bewohner durch Juden enteignet und mit einer großen Brutalität vertrieben worden. Damals herrschte der Unabhängigkeitskrieg, das arabische Haifa kollabierte, das Ende der "gemischten Stadt" war absehbar. Bald sollte auch das Ende des britischen Mandats gekommen sein und der jüdische Staat Israel gegründet werden. Wadi Salib wurde mit jüdischen Immigranten aus Marokko besiedelt, die noch verbliebenen Araber zwangsumgesiedelt. Wadi Salib verkam, es wurde nicht wie geplant zum modernen, europäisch geprägten Stadtviertel - sondern zu einem Armenhaus. Zehn Jahre später werden im Gefolge der sozialen Unruhen auch die marokkanischen Juden hinausgedrängt. Ein öder Bezirk bleibt zurück.

Unser Bild zeigt das Einwandererschiff "Jewish State" in Haifa, wo 1947 kranke jüdische Einwanderer von Bord gebracht werden bevor das Schiff nach Cypern weitergeleitet wird. Copyright: Bundesarchiv, Bild 183-2007-0220-504 / CC-BY-SA
Hafenszene in Haifa 1947: Sie dürfen nicht nach Palästina, sondern müssen weiter nach Zypern.Bild: Bundesarchiv, Bild 183-2007-0220-504 / CC-BY-SA

Akribisch hat Yfaat Weiss die Informationen für ihr Buch zusammen getragen, ihr Vorgehen ist dabei ungewöhnlich in der Geschichtsschreibung. Weiss bezeichnet ihr Buch auch als "Gewebe" aus Fragmenten. Sie folgt nicht der Chronologie, sondern, wie sie sagt, einer spiralförmigen Erzählweise, beschreibt Prozesse in der Vergangenheit und der Gegenwart von Haifa, beleuchtet historische, soziologische, geographische, kulturelle Aspekte. Yfaat Weiss möchte keine Geschichte vom Aufstieg und Fall des Stadtteils Wadi Salib erzählen, keinen kausalen Ablauf konstruieren, der in der Zerstörung des Viertels gipfelte. "Wadi Salib hatte, wie auch Haifa, eine glänzende Zukunft mit zahlreichen Visionen vor sich, die eine nach der anderen ad acta gelegt wurden", schreibt die Autorin. Dass dies geschah war jedoch nicht zwingend – anders ausgedrückt, es gab auch alternative Optionen.

Buchcover Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib - Haifas enteignete Erinnerung. Yfaat Weiss.
Buchcover Verdrängte Nachbarn

Neue Historikergeneration

Yfaat Weiss ist Professorin für jüdische Geschichte und leitet das Franz Rosenzweig Minerva Zentrum an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sie gehört, wie die Jury des Hannah-Arendt-Preises urteilte, "zur jüngeren Generation israelischer Historikerinnen, die genau und vorurteilslos die Geschichte Israels und Palästinas erforschen". Die Fünfzigjährige schreibt über das, was so oft dem Vergessen anheim fällt, erforscht verdrängte Geschichten, tabuisierte Konflikte. Sie wirft einen neuen Blick auf das Zusammenleben von ethnischen Gruppen in Israel. Sie schärfe damit den Blick für den ungewöhnlichen Verlauf der israelischen Geschichte und das zivilgesellschaftliche Potential im Lande und ermutige die historische Forschung sowie die öffentliche Meinungsbildung, hatte die Jury erklärt.

Preis für neues Denken

Hannah Arendt. (ddp images/AP Photo)
Lange verkannt: Philosophin Hannah ArendtBild: AP

Seit 1995 wird der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken von der Heinrich-Böll-Stiftung und der Stadt Bremen verliehen. Er ist mit 7.500 Euro nicht besonders hoch dotiert – aber er setzt im öffentlichen Diskurs ein Zeichen. Es ist kein akademischer, sondern ein öffentlicher Preis – ein Preis für den Mut, anders zu denken, eine Auszeichnung für das Wagnis Öffentlichkeit. Er erinnert zugleich an die deutsch-jüdische Philosophin, die sich in ihren Werken mit den Schattenseiten des 20.Jahrhunderts beschäftigt hat, mit dem Phänomen des Totalitarismus, dem Verhältnis von Macht und Gewalt, Überlegungen zu Freiheit und Politik. Hannah Arendt (1906 – 1975) studierte Philosophie und Theologie bei berühmten Zeitgenossen wie Martin Heidegger und Karl Jaspers, floh 1933 vor den Nazis zunächst nach Paris, später emigriert sie in die USA. 1955 entstand ihr Hauptwerk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", mit dem sie sich als bedeutende Politik- und Gesellschaftswissenschaftlerin etabliert.

Ihren öffentlichen Durchbruch hat Hannah Arendt 1961: Sie berichtet für die Zeitschrift "New Yorker" über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, zwei Jahre später erscheint dazu ihr Buch mit dem Untertitel "Ein Bericht über die Banalität des Bösen". Ihr Beitrag zum politischen Diskurs ist in Deutschland, wo sie nie wieder lebte, lange ignoriert worden. Heute gibt es nach ihr benannte Schulen und Forschungszentren, ihre Bücher werden gelesen, ihr wissenschaftlichen Ansätze erforscht. Und es ist nicht zuletzt der Hannah-Arendt-Preis, der dazu beigetragen hat, die öffentliche Wahrnehmung dieser zu Unrecht lange vergessenen Denkerin wieder ins Bewusstsein zu heben.

Auf Deutsch ist von Yfaat Weiss 2012 erschienen: "Verdrängte Nachbarn", Hamburger Edition, ISBN 978-3-86854-243-1, 285 Seiten, 25 €