Die vergessenen Flüchtlinge von Matamoros
19. August 2020Anfang März, als der US-amerikanische Krankenpfleger Ryan Kerr beschließt, im Hilfscamp von Matamoros noch ein paar Wochen dranzuhängen, und als María (Name von der Redaktion geändert) aus Nicaragua in dem Camp erneut eine Ablehnung ihres Asylantrags für die USA in den Händen hält, macht an der Grenze am Golf von Mexiko das Gerücht über ein ansteckendes Virus die Runde.
Die Flüchtlinge nehmen es gleichmütig hin – was soll schon passieren nach der Gewalt und Armut, die sie in ihrer Heimat in Zentralamerika erlebt haben, und dem Fußmarsch hierhin in den Norden des mexikanischen Bundesstaates Tamaulipas, auf dem sie ausgeraubt, zusammengeschlagen und viele Frauen vergewaltigt wurden?
Jetzt, ein halbes Jahr später, sind die Flüchtlinge in dem mexikanischen Camp Matamoros direkt an der Grenze zu Texas in den USA völlig verzweifelt - dem Coronavirus sind sie mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert, und die Chance, ein Visum für die USA zu bekommen ist angesichts von Präsident Trumps Abschottungspolitik nahezu aussichtslos.
Die Welt, die noch vor zwei Jahren täglich auf die "Karawane" schaute, die sich Richtung US-Grenze schob, blickt nun auf andere Krisenregionen. Die Flüchtlinge aus Honduras, Nicaragua, El Salvador und Guatemala, die in notdürftig errichteten Zelten in Matamoros ausharren, sind vergessen. So wie María.
Kein Schritt vorwärts, keiner zurück
Seit einem Jahr steckt die 45-Jährige in Mexiko fest – nach vorne zu ihrer Mutter, die 2000 Kilometer entfernt in South Carolina auf sie wartet, kann María nicht, zurück in ihre Heimat Nicaragua will sie nicht. Oder besser: kann sie auch nicht.
"Sie würden mich direkt ins Gefängnis stecken, weil ich nicht auf der Seite der Regierung bin." Ein Cousin von ihr, gerade einmal 36 Jahre alt, wurde umgebracht, beteuert sie. "Das Gleiche würden sie vielleicht mit mir machen."
Vor zwei Jahren flohen tausende Gegner der autoritären Regierung von Nicaraguas Präsident Daniel Ortega aus ihrer Heimat – auch María, die 22 Jahre lang im Gesundheitsministerium gearbeitet und sich als Stadträtin für die Opposition engagiert hatte.
Erste Station war Panama, doch auch dort fühlte sie sich nicht sicher. Also wagte sie mit ihrer Tochter und den zwei kleinen Enkelinnen den Fußmarsch in Richtung USA – über die von Drogenkartellen kontrollierte Strecke.
Jeden Morgen stand die Familie in aller Herrgottsfrühe um vier Uhr auf, überquerte Berge und schlief am Ufer von Flüssen. "Das, was mir auf dem Weg hierhin passiert ist, wünsche ich nicht meinem schlimmsten Feind. Aus Sicherheitsgründen möchte ich nicht mehr darüber sprechen. Aber es war sehr hart", erinnert sich María.
Nur geringe Chancen im Asylverfahren
Anfang August erreichten sie endlich die US-Grenze - sie wollten keine Zeit verlieren und stürzen sich in den Grenzfluss Río Grande, der Mexiko von den Vereinigten Staaten trennt. "Wir sind hinüber geschwommen und haben uns danach sofort der Einwanderungsbehörde in den USA gestellt. Wir haben geklopft, und die Leute dort waren ganz erstaunt. Aber wir wollten nicht, dass uns wieder so etwas passiert wie auf unserem Weg von Panama bis hierhin."
Drei Tage später schickten die Behörden sie nach Matamoros. Seitdem wartet María wie hunderte Andere im Niemandsland. Und wartet. Wegen der Corona-Pandemie hatten die USA das Bearbeiten von Asylverfahren ausgesetzt und Gerichtstermine immer wieder verschoben.
Viermal wurde Marías Antrag schon abgelehnt, am 11.September ist ihre nächste Anhörung. Die Chancen? Eher schlecht, gerade in US-Wahlkampfzeiten, in denen sich Präsident Trump mit dem Bau der Mauer und einer restriktiven Einwanderungspolitik brüstet.
Apotheke für Flüchtlinge
Bis dahin ist María weiter die Chefapothekerin im Camp in Matamoros. Die US-amerikanische Hilfsorganisation Global Response Management hat für die Flüchtlinge ein kleines Zelt mit den wichtigsten Medikamenten aufgestellt, wegen ihrer Expertise aus Nicaragua schmeißt María den Laden. Auch in einer kleinen Schulbibliothek arbeitet sie und unterstützt die Lehrer beim Unterricht unter freiem Himmel.
Bloß nicht nachdenken über das, was war und das, was noch kommen mag. "Ich wäre auch lieber woanders", sagt María, die den wachsenden Rassismus in Matamoros anprangert. "Wir werden hier oft diskriminiert. Alle die, die mich fragen, denen sage ich, wir sind keine schlechten Menschen, wir wollen arbeiten."
Hilfe ausgerechnet aus den USA
Rassismus kennt Ryan Kerr nur allzu gut. Der 30-jährige Krankenpfleger und Rettungssanitäter lebt dort, wo María gerne hin möchte, auf der anderen Seite des Río Grande, gegenüber von Matamoros, in Brownsville. "In den USA schauen die Menschen auf die Mexikaner herab und in Matamoros die Mexikaner auf die Flüchtlinge aus Zentralamerika", sagt er.
Kerr hat schon in allen Ecken und Enden der USA als Sanitäter gearbeitet, auf Intensivstationen und sogar als Rettungshelfer in einem Helikopter. Aber seinen schwersten Job macht er gerade jetzt: jeden Tag passiert er die Grenze, um mit seinen Mitstreitern von Global Response Management im Flüchtlingscamp von Matamoros anzupacken.
Irak, Bangladesch, Jemen - "wir gehen mit GRM immer genau dorthin, wo niemand hingehen will," sagt Kerr. Als die Nichtregierungsorganisation im September 2019 in Matamoros im wahrsten Sinne des Wortes ihre Zelte aufschlägt, gibt es kein Trinkwasser. Kein Essen. Keine Toiletten. Und auch keine medizinische Versorgung. Mittlerweile hat die NGO mehr als 3000 Flüchtlinge behandelt. Und sogar eine Corona-Notstation aus dem Boden gestampft.
Viele geben auf
Doch die Flüchtlinge werden immer weniger. "Als ich im März hierher kam, lebten 2500 Personen im Camp. Jetzt sind es weniger als 900", erklärt Ryan Kerr. Viele hätten die Flinte ins Korn geworfen und irgendwo anders in Mexiko ihr Glück probiert. "Die Menschen hatten ihren Traum und viele haben nun alle Hoffnung aufgegeben. Aber manche machen immer weiter, mit Hilfe US-amerikanischer Anwälte. Sie wollen nur rüber und ein besseres Leben führen."
Das Flüchtlingscamp hat die Coronakrise bisher glimpflich überstanden. Kein einziger Toter, kein einziger Patient auf der Intensivstation im Krankenhaus von Matamoros, obwohl die Infektionszahlen in Mexiko explodieren und schon mehr als 57.000 Menschen an Corona gestorben sind. "Wir hatten hier einige Fälle von Corona, aber zum Glück mit nicht besonders schwerwiegenden Verläufen. Aber die Angst vor dem Virus war und ist natürlich riesig", betont Kerr.
María, die bisher allen Widrigkeiten und auch Corona getrotzt hat, will noch ihre fünfte Anhörung für das Asyl abwarten. "Wenn es mit den USA nicht klappt, gehe ich zurück nach Panama. Natürlich hätte ich Angst, aber nach Nicaragua kann ich nicht, weil es dort jeden Tag schlimmer wird. Aber vielleicht klappt es ja noch mit dem Visum."
Und Ryan Kerr? Der US-Amerikaner würde gerne einmal seinen Präsidenten, der die Grenze quasi dicht gemacht hat, durch das Flüchtlingscamp von Matamoros führen. "Ich würde Trump gar nichts sagen", erklärt Kerr mit einem Schmunzeln. "Ich würde ihm einfach nur die Krankenstation zeigen, in der ich arbeite, und ihm zeigen, wie die Menschen hier leben müssen. Aber sagen würde ich ihm gar nichts."