Jeden kann es treffen
15. Juli 2017Mert, 37, will aus Angst vor Verfolgung nur unter falschem Namen reden. Er sagt, er sei im Herbst vergangenen Jahres von seinem Posten in einem Ministerium in Ankara entlassen worden, angeblich wegen Illoyalität gegenüber seinen Vorgesetzten. In Routinebesprechungen habe er bei bestimmten Punkten Bedenken geäußert wie sonst auch, sagt er, doch dann wurde er entlassen, aber nicht wegen persönlicher Meinungsunterschiede, sondern sein Chef habe ihm vorgeworfen, Verbindungen zu einer Terrororganisation zu haben. "Er sagte, ich sei ein Gülen-Anhänger", so Mert im Gespräch mit der Deutschen Welle. Die türkische Regierung macht den im US-amerikanischen Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch vor einem Jahr verantwortlich. "Dieser Vorwurf war lächerlich", sagt Mert, "denn mein Chef wusste, das das nicht stimmte. Er wollte mich einfach loswerden."
Seit seiner Entlassung ist Mert arbeitslos, sein Reisepass wurde ihm entzogen. Ähnlich wie viele andere der mehr als 150.000 Menschen, die im Zuge der laufenden Kampagne entlassen oder suspendiert wurden, ist auch Mert durch den Grund seiner Entlassung auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar. Mögliche Arbeitgeber sind durch Einträge in den Datenbanken der Sozialversicherung sofort im Bilde. "Ich stehe auf einer schwarzen Liste, und das ist viel schlimmer, als sich viele das vorstellen können", sagt er.
Ein Jahr nachdem der Putschversuch zu landesweiten Säuberungen von angeblichen Drahtziehern geführt hatte, geht die Kampagne nach wie vor über die ursprüngliche Zielgruppe der Gülen-Anhänger hinaus. Sie richtet sich auch gegen Mitglieder von Oppositionellengruppen, Medien und Hilfsorganisationen. Letztlich werden dadurch alle möglichen Formen abweichender Meinungen erstickt. Daten des türkischen Justizministeriums zeigen, dass rund 50.000 angebliche Gülen-Anhänger seit dem Putsch inhaftiert wurden. Im gleichen Zeitraum wurden 110 Medienunternehmen geschlossen und mehr als hundert Journalisten verhaftet, darunter der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen sitzen heute in der Türkei mehr Journalisten im Gefängnis als in jedem anderen Land der Welt. Auch Dutzende gewählte Abgeordnete der zweitgrößten türkischen Oppositionspartei, der prokurdischen HDP, befinden sich in Haft oder wurden aus dem Parlament entfernt, darunter die beiden HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag.
Auch Menschenrechtsgruppen betroffen
Und es sieht keineswegs danach aus, als ließen die Säuberungen nach, denn Präsident Recep Tayyip Erdogan hat eine Aufhebung des vor einem Jahr nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustands ausgeschlossen. Während der vergangenen Tage wurden Dutzende von Angehörigen der beiden Istanbuler Universitäten Bogazici und Medeniyet verhaftet, ebenso mehr als hundert IT-Spezialisten. Steckbrieflich gesucht werden weitere 51 Personen, darunter 34 frühere Beschäftigte des staatlichen türkischen Fernsehsenders TRT.
Vergangene Woche richtete sich die Kampagne gegen Menschenrechtsgruppen, als zehn Aktivisten wegen des Verdachts, Verbindungen zum Terrorismus zu haben, festgenommen wurden. Auch Idil Eser, die Direktorin des türkischen Zweigs von Amnesty International, war dabei. Eser ist bereits die zweite Amnesty-Mitarbeiterin, binnen eines Monats in Haft gekommen ist; im Juni war Taner Kilic, der Vorstandsvorsitzende von Amnesty in der Türkei, unter ähnlichen Vorwürfen festgenommen worden. Zwar verhaften auch Regierungen anderer Staaten immer wieder Amnesty-Mitarbeiter, doch dass zwei ihrer führenden Leute gleichzeitig hinter Gitter kommen, ist ungewöhnlich, sagt Andrew Gardner, Türkei-Experte der Menschenrechtsorganisation. "Das ist ein Testfall", so Gardner gegenüber der Deutschen Welle. "Wenn zehn Menschenrechtsaktivisten im Gefängnis sitzen, habe ich keine Garantie, dass es das nächste Mal vielleicht mich oder jemanden von Human Rights Watch oder von einer anderen Organisation trifft. Wenn man so etwas zulässt, ist niemand mehr sicher."
"Eine Art Folter"
Nach den Worten von Sebnem Korur Fincanci, der Vorsitzenden der Menschenrechtsstiftung der Türkei, haben die Maßnahmen gegen Abweichler bereits vor dem Putschversuch angefangen, sind aber danach verschärft worden. Während die Menschenrechtslage in der Türkei bereits seit langem Anlass für internationale Kritik gibt, hat Fincanci die größten Sorgen angesichts der sich verschlimmernden Haftbedingungen von mutmaßlichen Putschisten. Während des vergangenen Jahres, so Fincanci, habe sie Berichte über eine verstärkte Verhängung von Einzelhaft und sogar über Gewalt erhalten. Auch die Behandlung in der Untersuchungshaft sei brutaler geworden, glaubt Fincanci. Sie nennt Beispiele, bei denen Frauen im Krankenhaus nur Tage nach einer Geburt festgenommen worden seien.
Sie sagt, das Schlimmste am gegenwärtigen politischen Klima in der Türkei sei die Unsicherheit, nicht zu wissen, wer als nächster dran sei. "Es ist Willkür, völlige Willkür", sagte Fincanci, die an der Universität Istanbul arbeitet. "Ich erwarte, dass ich verhaftet werde, weil ich für Frieden eintrete, aber noch gab es an der Universität Istanbul keine Entlassungen. Wer weiß, wann es für uns soweit sein wird." Nicht zu wissen, was passieren wird, und dann diese ungewisse Zukunft vor Augen, das sei das Schlimmste, sagt sie. "Das ist eine Art Folter."