Zwei Kandidatinnen für die WTO
9. Oktober 2020Ende August war der bisherige WTO-Chef plötzlich weg. Roberto Azevêdo, Generaldirektor der Welthandelsorgansiation trat Ende des Monats zurück, aus persönlichen Gründen, wie er sagte. Tage später heuerte der Brasilianer für ein Millionensalär bei der Getränkefirma PepsiCo an. Wahrscheinlich auch das ein Symptom für die Krise der WTO. Denn wenigstens darin sind sich alle Beteiligten und alle Beobachter einig: Die 25 Jahre alte Organisation steckt "in der Krise" oder in ihrer "tiefsten Krise" oder gar in einer "Legitimationskrise".
Schon an der Frage, wer von den vier Stellvertretern des gewesenen Chefs zwischenzeitlich die Führung übernehmen sollte, scheiterten die 164 Mitgliedsländer. Das folgende Auswahlverfahren für eine neue Spitze verglich einer der Bewerber als eine Mischung aus "Papstwahl und Eurovision Song Contest". Das war der ehemalige britische Handelsminister Liam Fox, der jetzt nicht mehr im Rennen ist.
Zwei Bewerberinnen
Seit dieser Woche ist klar, dass auf jeden Fall eine Frau für die WTO die Kohlen aus dem Feuer holen soll. Von zunächst fünf Männern und drei Frauen verbleiben als Bewerberinnen noch die frühere Finanzministerin Nigerias, Ngozi Okonjo-Iweala, und die Handelsministerin von Südkorea, Yoo Myung-hee. Die Entscheidung wird Anfang November erwartet - wenn möglich, soll sie im Konsens getroffen werden, also ohne eine Kampfabstimmung. Ob das vor der Wahl des US-Präsidenten klappt, steht buchstäblich in den Sternen.
Die Nigerianerin Ngozi Okonjo-Iweala wäre die erste Afrikanerin auf einem solchen Posten, und sie gilt als klare Favoritin. Sie wird auch vom größten Handelsblock in der Organisation unterstützt, der Europäischen Union. Die Europäer hatten allerdings nicht einmal einen eigenen Bewerber aufgestellt - vielleicht auch das ein Krisensymptom. Der Brite Liam Fox, anfänglich noch Mitbewerber, hatte nach dem Brexit keine Freunde mehr in der EU.
Reformdruck
EU-Kommissar Valdis Dombrovskis, neuerdings mächtiger Handelspolitiker der Union, konzediert Handlungsbedarf: "Die WTO muss moderner werden und auf die aktuellen Herausforderungen reagieren können", sagte Dombrovskis im September der WELT. Vieles könne man da mit den USA zusammen vorantreiben.
Bisher wollen die Handelspolitiker aus Washington davon nicht viel wissen. Unter US-Präsident Trump setzt das Land auf Konfrontation in Handelsfragen und zielt, wenn überhaupt, auf bilaterale Vereinbarungen. Im Konflikt mit China hat Trump den größten Handelskrieg seit langer Zeit vom Zaun gebrochen - der WTO blieb weitgehend die Beobachterrolle.
Das liegt allerdings wiederum nicht zuletzt an den USA. Seit langem schwelt ein Konflikt mit den USA über die Ernennung neuer Richter für das Schiedsgericht der WTO. Die erfolgreichste Einrichtung der WTO, die Streitschlichtung bei Handelsstreitigkeiten zwischen Regierungen, ist seit fast einem Jahr teilweise gelähmt, weil die USA die Nachbesetzung von Stellen blockieren.
Sonderkonditionen für Entwicklungsländer?
Im Sommer forderte der US-Handelsbeauftragte Robert Lighthizer, die Berufungsinstanz im Streitschlichtungsverfahren solle abgeschafft werden, weil sie zu oft ihre Kompetenzen überschritten habe. Auch griff er dabei im Wall Street Journal die EU an, weil die mit Handelsvergünstigungen für mehr als 100 ärmere Länder eine Art Neokolonialismus betreibe. Große Länder wie China oder Indien dürften mit Verweis auf ihren Entwicklungsstatus keine Sonderkonditionen mehr genießen. Diese Konditionen gehören zum Regelwerk der WTO.
Südkoreas Handelsministerin Yoo hatte 2014 als Chef-Unterhändlerin ihres Landes das Freihandelsabkommen mit China ausgehandelt. Als ihre vornehmste Aufgabe versteht es die WTO seit jeher, die Liberalisierung des Welthandels zum Wohl aller Länder zu fördern. Jetzt stehe die Handelsorganisation "an einem kritischen Wendepunkt", sagte die Bewerberin Yoo Myung-hee. Die 53-Jährige will die WTO denn auch "relevanter, belastbarer und schneller in der Reaktion machen".
Ihre Kandidatur wird allerdings durch den Handelsstreit zwischen Südkorea und Japan belastet. Auch wird Südkorea in China als Alliierter der USA angesehen - und das mitten im scharfen Handelskonflikt der beiden Supermächte.
Eine klare Favoritin
Auch innerhalb der Organisation mit Sitz in Genf gilt die Nigerianerin Okonjo-Iweala als Favoritin: "Ich glaube, dass die Afrikanerin das Rennen macht", zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Freitag einen ranghohen WTO-Vertreter, der anonym bleiben wollte. Die heute 66-jährige Okonjo-Iweala war sieben Jahre lang Finanzministerin ihres Landes und arbeitete insgesamt 25 Jahre teils in leitender Position bei der Weltbank.
Die WTO müsse ihre Regeln an das 21. Jahrhundert anpassen, fordert die Absolventin von Harvard und Massachusetts Institute of Technologie (MIT), die auch einen US-Pass hat - ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Als eines ihrer Ziele gilt es, Handel so zu gestalten, dass er Entwicklungsländern stärker hilft, ohne deren Märkte zwangsweise für stärkere Handelspartner wie Europa, China oder den USA zu öffnen.
Die Kandidatin ist derzeit auch Sonderbotschafterin der Weltgesundheitsorganisation WHO im Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Ein Buch, das Okonjo-Iweala vor Jahren über Nigeria schrieb, trug übrigens den Titel "Das Unreformierbare refomieren".
ar/hb (dpa, rtr, afp)
Dieser Artikel wurde aktualisiert.