Die Zahl der Autoimmunerkrankungen steigt
12. Juni 2020Bei Tanja Renner hat es acht Jahre gedauert, bis sie die Diagnose bekam: Psoriasis-Arthritis. Das ist eine von mehr als 80 bekannten Autoimmunerkrankungen und betrifft die Gelenke, die sich entzünden. Die chronische Erkrankung verläuft in Schüben. Perioden, die durch starke Gelenkentzündungen geprägt sind, wechseln mit weniger entzündlichen Perioden ab.
Bei über 30 Prozent aller Betroffenen tritt sie zusammen mit Psoriasis, also Schuppenflechte auf, unter der in Deutschland etwa zwei Millionen Menschen leiden.
"Seit 1999 litt ich immer häufiger unter geschwollenen Gelenken und zahlreichen Kniepunktionen und konnte kaum noch am normalen Leben teilnehmen. Es war ein beschwerlicher und einsamer Weg für mich", beschreibt Tanja Renner ihre Erkrankung auf der Website von NiK e.V., dem Netzwerk Autoimmunerkrankter.
Den Verein, der sich ausschließlich über Spenden finanziert, hat sie 2016 zusammen mit sechs weiteren Personen gegründet. Ihr Anliegen ist es, anderen Betroffenen zu helfen, ihnen einen jahrelangen Spießrutenlauf zu ersparen und sie bei der Suche nach einem Experten zu unterstützen.
NIK sieht sich nicht als Selbsthilfe, sondern eher als eine Art Lotse, der mögliche Wege aufzeigt. Auch bei Mitgründerin Tanja Renner dauerte es lange, bis sie den richtigen Arzt gefunden hatte, die richtige Diagnose bekam und endlich auch die entsprechende Behandlung. So habe sie ein Stück der verlorenen Lebensqualität zurückgewonnen, sagt sie heute. Diese Erfahrungen will sie weitergeben.
Gestörtes Immunsystem
Etwa fünf bis acht Prozent der Bevölkerung in Deutschland leiden unter einer Autoimmunerkrankung. Einige der bekanntesten sind Diabetes mellitus Typ 1 , Multiple Sklerose oder auch Morbus Crohn , eine chronisch entzündliche Darmerkrankung.
Eigentlich soll das Immunsystem uns gegen Viren, Bakterien, Parasiten und andere Eindringlinge schützen. Bei Autoimmunerkrankungen aber ist das Immunsystem gestört. Es kann nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden, erkennt Fremdes und Eindringlinge in den Körper nicht mehr als solche und greift stattdessen körpereigenes, gesundes Gewebe und Organe an. Als Folge davon können sie durch schwere Entzündungsreaktionen zerstört werden.
Es gibt zwei verschiedene Arten: Entweder richtet sich das Immunsystem gegen ein bestimmtes Organ. Das kann zum Beispiel den Darm (Morbus Crohn), die Haut (Psoriasis) oder die Nerven betreffen. Das sind sogenannte organspezifische Autoimmunerkrankungen. In anderen Fällen jedoch richtet sich das Immunsystem gegen das gesamte System und führt damit zur sogenannten systemischen Autoimmunerkrankung.
Dramatische Entwicklung
Zu den organspezifischen Autoimmunerkrankungen gehört etwa Multiple Sklerose. Dabei werden die Myelinscheiden der Nervenfasern angegriffen. Beim Diabetes mellitus sind es die Inselzellen der Bauchspeicheldrüse, und bei Zöliakie, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa ulcerosa richtet sich das Immunsystem gegen die Darmschleimhaut.
Die Liste der verschiedenen Autoimmunerkrankungen ist lang und macht Angst, zumal sie immer länger zu werden scheint. Heute sind wesentlich mehr Menschen betroffen als noch vor 40 Jahren. Die Fälle von Multiple Sklerose beispielsweise haben sich in diesem Zeitraum verdoppelt .
"Wir verzeichnen eine enorme Zunahme an Autoimmunerkrankungen und seit etwa 50 Jahren einen deutlichen Rückgang von Infektionskrankheiten", sagt Professor Michael Radke vom Universitätsklinikum Rostock. "Das Immunsystem ist ‘fehlgeleitet‘ und richtet sich schließlich gegen den eigenen Körper."
Ist alles viel zu steril?
Bei einer natürlichen Geburt kommt das Kind im Geburtskanal mit vielen Bakterien in Kontakt. Das Immunsystem lernt sich dagegen zu wehren und Erreger unschädlich zu machen. "Das Immunsystem eines Neugeborenen, Säuglings und Kleinkindes ist darauf angewiesen, sich mit Bakterien und Viren aus der Umwelt auseinanderzusetzen. Wenn das über lange Zeit fehlt, weil die Kinder mit sterilen Lebensmitteln ernährt werden, ist es kein Wunder, wenn das Immunsystem irgendwann auf Abwege gerät und dann gegen den eigenen Körper Entzündungsprozesse in Gang setzt", erklärt Kinderarzt Radke.
Viele Lebensmittel seien heute oft sehr lange haltbar, alle Bakterien abgetötet. Auch darin sieht Radke einen Grund dafür, warum das Immunsystem bei vielen Kindern nicht so gut funktioniert und nicht das tut, was es tun soll: den Körper vor Erregern schützen.
Das Immunsystem attackiert den Körper
Warum das Immunsystem den eigenen Körper angreift, haben Wissenschaftler noch immer nicht ganz klären können, aber in den letzten Jahren konnten sie viele Erfolge verzeichnen. Forscher gehen davon aus, dass die genetische Veranlagung ein wichtiger Grund für eine Autoimmunerkrankung ist.
Untersuchungen haben gezeigt, dass dies beispielsweise bei Multipler Sklerose, Morbus Crohn, aber auch bei Rheuma der Fall ist. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Ernährung. Die Darmflora beeinflusst die Entstehung verschiedener Autoimmunerkrankungen.
Die Frage, warum und wie Autoimmunerkrankungen entstehen, ähnelt einem großen Puzzle aus verschiedenen kleinen und kleinsten Elementen. Noch ist es nicht zusammengesetzt. Dabei spielen auch Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Auf der Liste stehen aber auch Rauchen oder verschiedene chemische Stoffe wie auch ein Mangel an Vitamin D durch zu geringe Sonneneinstrahlung. Hormone spielen ebenfalls eine große Rolle. Vor allem Frauen sind von Autoimmunerkrankungen betroffen.
Unter Stress
Der Einfluss von Stress auf Autoimmunerkrankungen sollte nach Meinung von Experten auf keinen Fall unterschätzt werden. Für die meisten gilt: Je mehr Stress, umso häufiger kommt es zu Krankheitsschüben. Die behandelt der Arzt dann gewöhnlich erst einmal mit Cortison, denn das bremst den Entzündungsprozess.
Mittlerweile lassen sich viele Autoimmunerkrankungen relativ gut behandeln. Die Gabe von Interferonen hat sich beispielsweise bei Multipler Sklerose bewährt. Sie sorgen dafür, dass das Immunsystem gedämpft wird und nicht überreagiert. Heilbar sind Autoimmunerkrankungen jedoch bislang alle nicht.
Stammzellentherapie als letzter Ausweg
In den USA wenden die Ärzte auch Stammzellentherapien bei Autoimmunerkrankungen an, ein sogenanntes Immunreset. Diese Methode ist der Versuch, das immunologische Gedächtnis des Körpers zu zerstören. So kann der Ablauf der Autoimmunerkrankung unterbrochen werden. Dazu müssen sich die Patienten einer Chemotherapie unterziehen. Ihr Immunsystem wird zunächst quasi auf Null gesetzt, um dann mithilfe der Stammzellen ein neues Immunsystem aufzubauen.
In Deutschland ist eine solche Behandlung nur erlaubt, wenn nachweislich keine andere Therapie anschlägt, denn die Methode birgt hohe Risiken bis hin zum Tod. Sie ist nur für Patienten gedacht, für die es gar keinen anderen Ausweg mehr gibt, aber sie kann eben auch gefährlich sein.
Alle Altersgruppen
Eine Autoimmunerkrankung kann Menschen verschiedener Altersgruppen treffen. Manch einen erwischt es schon in jungen Jahren, andere wiederum in der Mitte des Lebens.
Auf der Webseite von NIK stellen sich verschiedene Menschen vor, die eine Autoimmunerkrankung haben, die meisten von ihnen mit der Diagnose Multiple Sklerose und die meisten von ihnen junge Frauen. Sie alle erzählen ihre ganzpersönliche Geschichte und beschreiben, wie sie mit ihrer Erkrankung umgehen. Dabei zeigen alle vor allem eines: enorme Kraft und Willensstärke. Von ihrer Autoimmunerkrankung wollen sie sich nicht unterkriegen lassen.