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Umstrittene Amnestie

22. Oktober 2009

Von 1973 bis 1985 herrschte die Militärdiktatur in Uruguay. Ein Amnestiegesetz verhinderte bislang die Verfolgung ihrer zahlreichen Menschenrechtsverbrechen. Am Sonntag stimmen die Uruguayer über seine Abschaffung ab.

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Bilder von verschwundenen politischen Gefangenen (Foto: Victoria Eglau)
Noch immer ungeklärt: das Schicksal von 172 politischen GefangenenBild: Victoria Eglau

Dienstagabend auf der Plaza Libertad, dem Platz der Freiheit in Uruguays Hauptstadt Montevideo. Tausende von Menschen jeden Alters schwenken rosa Fahnen und tragen T-Shirts und Buttons, auf denen in schwarzen Buchstaben "Sí" steht. "Ja" zur Annulierung eines Gesetzes, das in Uruguay seit 1986, kurz nach Ende der Diktatur, in Kraft ist, und eine juristische Aufarbeitung der unter den Militärs begangenen Verbrechen weitgehend verhindert hat. Über dessen Annulierung findet in Uruguay am kommenden Sonntag, parallel zur Präsidentschafts- und Parlamentswahl, eine Volksabstimmung statt.

(Foto: AP)
30.000 Urugayer fordern am Dienstag (21.10.2009) die Abschaffung des "Verfallsgesetzes"Bild: AP

"Am Sonntag stimmen wir alle mit 'Ja', um das Gesetz der Straflosigkeit abzuschaffen", tönt es aus einem Lautsprecher auf der Plaza. "Staaten dürfen nicht darauf verzichten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. In einem Rechtsstaat ist das ein juristischer, ein ethischer und ein politischer Imperativ", sagt Oscar López Goldaracena, Anwalt und Sprecher der Initiative für die Aufhebung des 'Gesetzes über den Verfall des Bestrafungsanspruchs des Staates', so der vollständige und komplizierte Name.

Ein Produkt der Transition

Das mehr als zwei Jahrzehnte alte so genannte Verfallsgesetz – auf Spanisch "Ley de Caducidad" – beinhaltet keine Generalamnestie für die Verantwortlichen des Staatsterrorismus. Doch es legt die Entscheidung darüber, ob die Justiz in einem bestimmten Fall tätig werden kann, in die Hände der Exekutive. Beschlossen wurde das Gesetz nach Uruguays Rückkehr zur Demokratie unter Präsident Julio Maria Sanguinetti. Kurz zuvor hatte seine Regierung eine Amnestie für alle inhaftierten Guerilleros erlassen. Und die Justiz hatte begonnen, gegen mutmaßliche Diktaturverbrecher zu ermitteln. "Die Militärs hatten die Macht übergeben, und jetzt fühlten sie sich in gewisser Weise betrogen", erinnert sich Sanguinetti. "Meine Regierung sah sich in Schach gehalten. Wir dachten, dass es tatsächlich wieder zu einem Konflikt mit der Armee kommen könnte." Denn die Diktatur-Generäle waren damals noch auf ihren Posten. Für Ex-Präsident Sanguinetti von der rechten Colorado-Partei, heute Senator, hat das Verfallsgesetz, das die Armee weitgehend vor Prozessen schützte, seinen Zweck erfüllt. Es habe das Land befriedet. "Es gab keine Probleme mit den Streitkräften mehr. Es gab keine Situationen wie etwa in Argentinien, wo es nach der Diktatur zu Militärrevolten kam."

Frieden ohne Gerechtigkeit?

Eine Befriedung um den Preis der Wahrheit und Gerechtigkeit, so sehen es die Opfer der Menschenrechtsverletzungen. In Uruguay wurden, wie in anderen lateinamerikani-schen Diktaturen, Oppositionelle gefoltert und ermordet. Es gab mehrere Tausend politischer Gefangener, und nach jüngsten Untersuchen von Historikern 172 Verschwundene. Ihr Verbleib ist in den meisten Fällen bis heute ungeklärt. Der Sohn von Luisa Cuesta etwa wurde 1976 im Nachbarland Argentinien festgenommen, danach verlor sich seine Spur. Luisa, 89 Jahre alt, weiss nichts über sein Schicksal. Seit drei Jahrzehnten kämpft sie für die Abschaffung des Verfallsgesetzes. Bereits 1989 fand ein Referendum statt, bei dem die Gesetzesgegner unterlagen. Für Luisa Cuesta und die anderen Angehörigen der Verschwundenen, der desaparecidos, ist das Gesetz ohnehin nichtig und unmoralisch. "Jetzt haben wir die Gelegenheit, es zu kippen. Ich glaube, dass wir diesmal genügend Stimmen zusammen bekommen", zeigt sich Luisa optimistisch.

Ex-Guerillero aussichtsreichster Präsidentschaftskandidat

Präsidentschaftskandidat José Mujica bei einer Wahlkampfveranstaltung in Montevideo am 12.10.2009. (Foto: AP)
Einst Tupamaro, jetzt Präsidentschaftskandidat: José MujicaBild: AP

Bei der Volksabstimmung mit Ja stimmen dürften vor allem Anhänger des Parteien-Bündnisses Frente Amplio, das die erste Linksregierung in der Geschichte Uruguays stellt. Aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat des Frente Amplio ist José Mujica, Mitglied der einstigen Stadtguerilla Tupamaros.

In weitaus geringerem Ausmaß kommt auch aus anderen Parteien Unterstützung für die Annulierung. Zum Hindernis für einen Erfolg der Gegner des Verfallsgesetzes könnte werden, dass dieses rückwirkend für ungültig erklärt werden soll. Unter Juristen ist umstritten, ob das ueberhaupt möglich ist, und was für Folgen es hätte. Der Historiker Gerardo Caetano fürchtet, dass aus diesem Grund auch Wähler mit Nein stimmen könnten, die eigentlich ein Ende der Straflosigkeit wollen.

Oberster Gerichtshof: Verfallsgesetz verfassungswidrig

Unabhängig vom Ausgang des Referendums hält Caetano das Verfallsgesetz für tot, da es die Verfassung verletze. Anfang dieser Woche hatte der Oberste Gerichtshof Uruguays in einem bestimmten Fall fuer verfassungswidrig erklaert. "In unserer Verfassung ist seit jeher die Gewaltenteilung verankert. Dieses Gesetz jedoch ueberträgt der Exekutive die Entscheidung, wer vor Strafverfolgung geschützt ist und wer nicht. Das widerspricht der Verfassung", betont Gerardo Caetano, der an der Universidad de la República in Montevideo lehrt. Zwar sei es wichtig, dass sich das Volk bei dem Referendum gegen das Gesetz ausspreche. Aber aus juristischer Sicht sei das unwesentlich. "Es ist vielmehr die Entscheidung des Obersten Gerichts, das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären, die einen Weg dafür eröffnet, alle Fälle von Staatsterrorismus vor die Justiz zu bringen", glaubt Caetano.

Auch trotz des Verfallsgesetzes gab es in Uruguay ein gutes Dutzend Verurteilungen wegen während der Diktatur begangener Verbrechen. Die scheidende Regierung von Tabaré Vazquez machte mehrfach vom Recht der Exekutive Gebrauch, die Justiz zum Handeln zu ermächtigen. Zu den Inhaftierten gehören die früheren Diktatoren Juan Maria Bordaberry und Gregorio Alvarez.

Autorin: Victoria Eglau

Redaktion: Sven Töniges