Die zwei Gesichter Indiens
9. Dezember 2009Wenn der Zug an Sarasvati vorbei Richtung Norden rollt, dann fährt er durch das Klo der Bewohner. Mehr als 2.000 Menschen leben in dem Slum auf engstem Raum, ohne jede sanitäre Einrichtung. Ihre Notdurft verrichten sie zwischen den Gleisen.
Der einzige Kanal neben dem Bahndamm führt kaum Wasser und quillt über von Müll. Das bringt große Probleme mit sich, erfährt Doreen Grüttner von einer Sozialarbeiterin: „Es gibt keine Bäder, es gibt keine Toiletten, und selbst die Frauen nehmen ihr Bad draußen.“ Das Abwassersystem funktioniert schlecht bis gar nicht. Ddurch entstehen auch Krankheiten. Das Sanitätsproblem wird als das Größte in der Gegend hier betrachtet.
Dazu kommen andere Probleme wie die hohe Geburtenrate und der schlechte Bildungsstand. Für einen höheren Schulabschluss der Kinder ist einfach kein Geld vorhanden. Dabei ist Sarasvati noch nicht einmal einer der ärmsten Slums von Nagpur. Die meisten hier haben immerhin einen Job, zum Beispiel als Fahrer einer Fahrradrikscha. Im Monat verdienen sie damit aber nicht mehr als 1.500 Rupien, umgerechnet etwa 25 Euro. Viele Eltern in Sarasvati wünschen sich, dass ihre Kinder es einmal besser hätten. Eine Frau erzählt Doreen Grüttner, dass sie sich für ihre Kinder eine gute Arbeit wünscht.
Das andere Gesicht
Nur ein paar Kilometer weiter sieht die Welt ganz anders aus. „Fiona“ heißt ein nobles Restaurant, das auf gutes Essen und ausgefeiltes Design setzt. Für eine Flasche Wein im Fiona müsste ein Rikschafahrer aus Sarasvati einen ganzen Monat lang arbeiten. Nicht einmal die indische Mittelschicht kann sich diese Preise leisten, räumt der junge Eigentümer Ranjan Kale ein. „Unsere Gäste sind vor allem Geschäftsleute. Einfache Angestellte haben nicht das Geld, um hier zu essen.“ Ranjan Kale hat eine Million Euro investiert und hofft nun von der wirtschaftlichen Entwicklung Indiens zu profitieren, durch mehr wohlhabende Gäste. Kale sieht sich als Arbeitgeber mit sozialer Verantwortung, und nennt die Belegschaft „seine Familie“. Dass die soziale Schere in Indien weiter aufgeht, das glaubt er nicht. „Die ärmeren Schichten steigen auf in Richtung Mittelklasse, durch mehr Bildung und neue technische Möglichkeiten wie Internet und Mobilfunk. Es geht aufwärts, aber nur sehr, sehr langsam.“
Bildung ist der Schlüssel
Die Entwicklungsorganisation, für die Doreen Grüttner arbeitet, setzt auch auf Bildung. Im Sarasvati-Slum zum Beispiel hat sie für junge Frauen eine Nähschule eingerichtet. Die junge Deutsche erzählt, dass es in erster Linie darum geht, den Mädchen Selbstbewusstsein zu geben, dass sie durch Bildung haben. So haben sie das Rüstzeug, sich selbständig zu versorgen. Und das gibt ihnen eine ganz andere Position in der Familie.
Der Kontrast zwischen Arm und Reich schockiert Doreen Grüttner nach fast einem halben Jahr in Indien nicht mehr, sagt sie. Von den Gesprächen im Elendsviertel und im Luxusrestaurant nimmt sie sogar Hoffnungszeichen mit. Beide Seiten, Reich und Arm, hätten erkannt, wie wichtig für Indien Bildung sei. Und auch, wenn sich nur langsam etwas ändert: Der Slum am Bahndamm trägt dafür schon den richtigen Namen. Sarasvati ist die Göttin der Bildung.
Autor: Mark Kleber
Redaktion: Birgit Görtz