Digitale Erinnerungskultur
Es ist eine Zeitreise in die Vergangenheit: Der Filmemacher Benjamin Geissler hat einen virtuellen Raum erschaffen, der die unfassbare Geschichte von Bruno Schulz und dem Holocaust greifbar macht.
Die Bilderkammer des Bruno Schulz
Begonnen hat es mit einer Art Schatzsuche: Im Jahr 2001 fand der deutsche Filmemacher Benjamin Geissler - nach aufwendiger Recherche - die damals als verschollen geltenden Wandmalereien des jüdischen Schriftstellers und Künstlers Bruno Schulz. Ein Sensationsfund, der Benjamin Geissler bis heute beschäftigt. Denn kurz nach der Freilegung wurden die ersten Fresken ohne Absprache entfernt.
Märchenszenen inmitten des Schreckens
Fundort war dieses Haus in Drohobycz. Hier wohnte im zweiten Weltkrieg der SS-Hauptscharführer Felix Landau, der an der Ermordung der Juden in der Region beteiligt war. Bruno Schulz hatte bei ihm eine Sonderstellung: Er musste für den SS-Mann das Kinderzimmer im Haus mit Märchenszenen ausmalen. Das schützte ihn, aber nicht lange: im November 1942 wurde Bruno Schulz auf offener Straße erschossen.
Der "polnische Kafka"
Bruno Schulz ist heute einer der bekanntesten polnischen Autoren. Seine Werke wurden in rund 30 Sprachen übersetzt, darunter auch sein berühmtestes Buch "Die Zimtläden", das bis heute Menschen in aller Welt fasziniert. Seine Prosa ist fantastisch, vielen gilt er als "polnischer Kafka". Schulz wird oft zitiert mit den Worten: "Mein Ideal ist, zur Kindheit heranzureifen. Das wäre die wahre Reife."
Unklare Besitzverhältnisse
Drohobycz liegt inzwischen in der Ukraine. Wem also gehört der Fund? Das lässt sich in solchen Fällen nur schwer klären. Die Freilegung der Bilder (Foto) ging relativ schnell, doch noch bevor weitere Pläne gefasst wurden, lösten Mitarbeiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem drei Fresken aus der Wand und brachten sie nach Israel.
Finden - und wieder verlieren
Der Eingriff Yad Vashems löste damals weltweit Diskussionen aus. Fakt ist, dass die Fresken bis heute in Israel verblieben sind. Auch die übrigen Stücke blieben nicht an Ort und Stelle: Sie sind in einem Museum in der Ukraine aufbewahrt. In seinem Film "Bilder finden" erzählt Benjamin Geissler (Foto) die Geschichte der Bilderkammer: wie sie gefunden und dann zerstört wurde.
Treffen mit Alfred Schreyer
Für die Dreharbeiten hielt Geissler sich viel in Drohobycz auf. Dort traf er auch den polnischen Künstler Alfred Schreyer (Foto, l.), den letzten noch vor dem Krieg geborenen Juden in der Stadt. Er war einst ein Schüler von Bruno Schulz, der sein Geld damals als Zeichenlehrer am Gymnasium verdiente. Auch Schreyers Familie wurde von den Nazis ermordet, er selbst entging nur knapp der Vernichtung.
Digitale Rekonstruktion
Die entdeckte Bilderkammer ließ Benjamin Geissler nicht mehr los. Er beschloss, sie digital zu rekonstruieren. Das war möglich, da er, wie er sagt, der Einzige sei, der die Wände genau abgefilmt und fotografiert hat. Vor kurzem war die Installation in Berlin zu sehen, bald soll sie weiterreisen nach Polen und in die Ukraine, doch es fehlt noch an der Finanzierung.
Zusammenhang wieder sichtbar
Bei der Videoinstallation handelt es sich um einen begehbaren Raum, der dem Besucher die Bilderkammer aus Drohobycz maßstabsgetreu vor Augen führt. "Sie gibt die Plastizität wieder und auch die Art der Komposition", erläutert Geissler sein Projekt. Mit Hilfe der Technik werden die verschiedenen Phasen der Kammer gezeigt: von der Entdeckung über die Freilegung bis hin zu ihrer Zerstörung.
Dialog anregen
Benjamin Geissler hat sich in den letzten Jahren viel mit Bruno Schulz auseinandergesetzt. In einer begleitenden Ausstellung will er dem Besucher die Geschichte des Mannes erzählen, will "neugierig machen auf die Welt von Bruno Schulz", wie er sagt. Und er möchte, dass ein Dialog entsteht: über Bruno Schulz, die Bilderkammer und ihre schwierige Geschichte.
Weltweites Interesse
Mit seiner Faszination für Bruno Schulz ist Geissler nicht allein. Auch der russische Dokumentarfilmer Stanislav Dorochenkov (Foto) teilt die Bewunderung für das Leben und Werk des jüdischen Autors. Er ist extra nach Berlin gereist, um sich die digitale Rekonstruktion der Bilderkammer anzugucken – die hoffentlich demnächst selbst wieder auf Reisen gehen wird.