"Digitalisierung bringt Gewinner und Verlierer"
15. September 2015Deutsche Welle: Ist unsere digitale Agenda human?
Nicht genug. Beim Thema "digitale Organisation" denken wir zunächst an technische Geräte: Mitarbeiter mit Laptops unterm Arm, permanent verbunden über eine gemeinsame virtuelle Plattform, Menschen, die von x-beliebigen Orten aus arbeiten, zusammen mit Menschen, die sie nie persönlich kennengelernt haben. Und es stimmt ja auch, dass alle großen Veränderungen am Arbeitsplatz in den letzten Jahrzehnten auf neue Technologien zurückzuführen sind. Innovation darf jedoch nicht allein mit Maschinen gleichgesetzt werden, die Menschen ersetzen. Technologie ist vielmehr nur die Spitze des Eisbergs.
In meinem Buch "Light Footprint Management, Leadership in Times of Change" habe ich es erklärt: Technologie ist nur eine Tafel eines größeren Triptychons, das daneben auch Organisation und Kultur umfasst. Ein Wandel, der ausschließlich auf Technologie beruht, hat daher wenig Aussicht auf Erfolg.
Beispiel E-Mail: Mit dieser Technik hat sich nicht nur das Kommunikationsmittel geändert. Die E-Mail hat vielmehr unsere gesamte Arbeitsweise, die Art und Weise, wie Mitarbeiter miteinander kommunizieren, Informationen austauschen oder speichern, grundlegend verändert.
Die meisten Unternehmen halten gerade mal Schritt mit dem technischen Wandel, aber sie hinterfragen nicht, wie er sich auf ihre Organisation und Kultur auswirkt. Entsprechend lange hat es gedauert, bis die Verwendung von E-Mails und die Zeit, die Mitarbeiter damit verbringen, kritisch beleuchtet wurden und Unternehmen begonnen haben, nach anderen, besseren Instrumenten zu suchen.
Digitale Technologien - Handys, E-Mail, soziale Netzwerke usw. – ändern unsere Arbeitsbeziehungen grundlegend. Digitale Technologien helfen uns, immer online zu sein. Welchen Einfluss haben digitale Technologien auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben?
"Telearbeit" war einer der ersten und offensichtlichsten Effekte digitaler Technologien im Arbeitsleben. Erste Bedenken hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben kamen vor fast zehn Jahren auf. Für traditionelle Unternehmen bedeutete Telearbeit eine weitreichende Umstellung, denn Mitarbeiter, vor allem Führungskräfte, waren damit auch außerhalb der üblichen Arbeitszeiten erreichbar.
Digitale Technologien wie die permanente Erreichbarkeit per E-Mail wurden zu einem Stressfaktor, genauso wie das zunehmende Eindringen von Arbeitsgeräten in das private und familiäre Umfeld. Um gegenzusteuern, experimentierten einige Unternehmen mit Lösungen wie "ein Abend pro Woche ohne E-Mails oder SMS". Und sie hatten Erfolg damit: Motivation und Effizienz der Mitarbeiter stiegen.
Work-Life-Balance im Digitalzeitalter
Ich denke aber auch, dass die Erwartungen und Ziele der jüngeren Generationen die Spielregeln ändern werden. Denn diese sehen digitale Technologien mehr und mehr als Chance, ihr Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu verbessern, ihre Autonomie zu vergrößern und Arbeitszeiten flexibler zu gestalten. Unternehmen mit ausgereifter digitaler Organisation sind jedenfalls deutlich attraktiver für junge Leute.
Ganz unabhängig davon ist eines aber auch klar: E-Mails, Handys und soziale Netzwerke haben wir bereits hinter uns gelassen. Der nächste Schritt sind Sensoren, 3D-Drucker usw. Wie diese sich in einigen Jahren auf unsere Work-Life-Balance auswirken werden, können wir heute noch gar nicht absehen.
Die digitale Technologie untergräbt die physischen Barrieren, die einige Aufgaben bisher auf bestimmte Orte beschränkt haben, und sorgt dafür, dass diese jetzt nahezu überall erledigt werden können. Was bedeutet das für Mitarbeiter und Führungskräfte?
Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hat die fortschreitende industrielle Automatisierung zu immer mehr Spezialisierung, Individualisierung und letztlich auch zum Outsourcing großer Teile der industriellen Produktion geführt.
Heutzutage geschieht genau dasselbe mit geistiger Arbeit, ausgelöst durch die digitalen Technologien. Neue Formen von "Arbeit auf Abruf" sind stark im Kommen, in allen Branchen und Wirtschaftszweigen. Unternehmen können darauf bauen, dass inzwischen jeder einen Computer in der Tasche hat und unmittelbar erreichbar ist. Damit ist es häufig kostengünstiger, auf externes statt auf internes Know-how zuzugreifen, denn die Transaktionskosten sind inzwischen verschwindend gering.
Dies hat enorme Auswirkungen. In ihrem jüngsten Bericht The Changing Nature of Jobs schreibt die Internationale Arbeitsorganisation ILO, dass weltweit zwar noch rund die Hälfte aller Beschäftigungsverhältnisse in Lohnarbeit ausgeübt wird. Aber in hochentwickelten Volkswirtschaften ist dieser Anteil gegen den historischen Trend rückläufig. In den USA ist bereits einer von drei Erwerbstätigen teilzeit-selbstständig.
Bis 2020 wird es dort mehr freie als festangestellte Mitarbeiter geben. Nimmt man die steigende Zahl von Teilzeit- und Zeitverträgen dazu, arbeitet mittlerweile weniger als ein Viertel der Erwerbstätigen weltweit als abhängig Beschäftigte in Vollzeitarbeit.
Für Führungskräfte wie für Mitarbeiter bedeutet dies eine erhebliche Umstellung. Ein digitales Unternehmen ist kein physischer Ort mehr, an dem hierarchisch organisierte Mitarbeiter zusammenkommen. Es ist ein Ökosystem, in dem Manager und Mitarbeiter navigieren und versuchen ihr Know-how und ihre Möglichkeiten zu entwickeln.
Neue Aufgaben für Führungskräfte
Manager sehen sich regelmäßig mit einer riesigen Informationsflut konfrontiert: Sie haben Schwierigkeiten, alle Mitarbeiter auf demselben Stand zu halten und den Überblick über Daten und Informationen zu halten. Welche Folgen hat dies?
Unsere Gesellschaften werden Wege finden, mit den wachsenden Datenmengen zurechtzukommen. Als Gutenbergs Drucktechnik ihren Siegeszug in ganz Europa antrat, fühlten sich die Gelehrten überwältigt: Wie können wir so viele Bücher lesen? Heutzutage haben wir uns damit abgefunden, dass wir nicht jedes Buch lesen können. Genauso verhält es sich mit den Informationen. Wir haben erkannt, dass wir nie alles wissen werden. Dies hat natürlich Einfluss auf die Rolle von Führungskräften, deren Macht in klassischen Organisationen - zumindest teilweise - auf der Kontrolle von Informationen beruht.
Die Stabilität, die früher durch eine strenge Informationskontrolle sichergestellt war, muss heute durch Gruppendruck und Selbstorganisation erreicht werden. Freundschaft, sich über die Schulter schauen und ein Gefühl von gegenseitiger Verpflichtung tragen zu einer Form der Selbstorganisation bei, mit der das System beherrschbar bleibt, auch wenn kein Einzelner offiziell das Heft in der Hand hält.
Häufig trifft man diese Form der Selbstorganisation bei kleinen Startup-Unternehmen an. Je größer und komplexer das Unternehmen jedoch wird, desto mehr gerät sie in den Hintergrund. Gerade hier kommt den Führungskräften in digitalen Organisationen eine entscheidende Rolle zu: Sie sind es, die Vertrauen aufbauen können.
Die Verbreitung digitaler Technologien hat den schnellen Aufstieg mancher Unternehmen begünstigt, die sich nicht in herkömmliche Strukturen einfügen, etwa den Fahrdienst-Vermittler Uber. Traditionell organisierte Modelle haben Schwierigkeiten, damit Schritt zu halten. Worin bestehen die großen Herausforderungen für das Management und die Mitarbeiter?
Nicht jedes Unternehmen kann ein Uber oder Airbnb werden. Aber jedes einzelne Unternehmen muss sich dem Wandel stellen und eine flexiblere, weniger hierarchische Organisation bilden: auf Basis kleiner, eingespielter Teams mit Kontakt zur Spitze der Pyramide, aber echter Autonomie in der Praxis.
Dieses offene und agile Modell, das ich "Light Footprint Management" genannt habe, gilt auch für die externe Seite: Marktwissen kann nicht mehr nur über Marketingstudien weitergegeben werden, man muss die Kunden mit einbeziehen - sie werden zu Informationslieferanten und Innovationsstiftern.
Jeder zweite Job durch Maschinen bedroht
Dieser Wandel ist nicht auf die Wirtschaft beschränkt: Weite Teile unserer gesellschaftlichen Organisation könnten im digitalen Zeitalter mutieren. Der zunehmende Einsatz von Robotern im Produktionsprozess, die Digitalisierung von Prozessen und Know-how, die Einbeziehung von Kunden oder Wettbewerbern in den Entscheidungsprozess - diese ganze Dynamik zersetzt allmählich das Unternehmen, wie wir es kennen, als physischen Ort und als hierarchische Organisation von Arbeitnehmern. Intelligenz, Kreativität und Innovation werden künftig kollektiv und in Netzwerken verteilt sein. Anders als heute ist das Unternehmen nicht mehr selbst deren Eigentümer.
Die sozialen Konsequenzen einer solchen Entwicklung sind weitreichend und noch unerforscht. Arbeitnehmer werden ihre Fähigkeiten nicht mehr für eine bestimmte Firma entwickeln, sondern für ein größeres Ökosystem, in dem sie sich bewegen müssen, um die besten Allianzen und die besten Möglichkeiten zu finden.
2013 haben Forscher der Universität Oxford vorhergesagt, dass Maschinen, also Computer und Roboter, den Menschen innerhalb der nächsten 20 Jahre an der Hälfte aller amerikanischen Arbeitsplätze ersetzen könnten. Stimmen Sie zu, dass eine regelmäßige Arbeit wichtig ist, nicht nur für das finanzielle Auskommen, sondern auch für die psychische Gesundheit und das gesellschaftliche Miteinander? Wenn ja, was ist zu tun?
Roland Berger hat die von der Universität Oxford entwickelte Methode auf den französischen Arbeitsmarkt angewandt und berechnet, dass schätzungsweise 42% der französischen Jobs auf dem Spiel stehen. Wenig überraschend handelt es sich dabei vor allem um gering qualifizierte Jobs.
Aber auch Stellen mit mittleren Qualifikationsanforderungen sind davon betroffen. Dazu zählen administrative Funktionen oder auch viele mittlere Managementfunktionen, die seit jeher überwiegend von den mittleren Einkommensschichten besetzt sind. Wie bei allen größeren wirtschaftlichen Umbrüchen kennt auch die Digitalisierung Gewinner und Verlierer.
Riesige Herausforderung für die Rentenversicherung
In meinem jüngsten Buch "Confucius et les automates" ("Confucius and the PLCs") habe ich versucht, den Konsequenzen dieser Veränderungen auf den Grund zu gehen. Wenn die meisten Jobs von Robotern oder Maschinen erledigt werden, wird ein Großteil der Menschheit in ein neues Zeitalter eintreten, das ich "quaternär" genannt habe: Nach der Vorherrschaft des primären, dann des sekundären und schließlich des tertiären Sektors in unseren Volkswirtschaften stehen wir nun am Beginn eines beispiellosen Zeitalters, in dem sich Gestalt und Bedeutung der menschlichen Erwerbstätigkeit drastisch verändern werden.
Viele von uns werden in die Erwerbslosigkeit gezwungen. Andere werden Tätigkeiten entwickeln, die auch in der Welt der Roboter notwendig sind: Entwickler elektronischer Spiele, professionelle Spieler, Dienstleister, Händler, Pflegekräfte für Alte und Gebrechliche, Telearbeiter, Handwerker, Online-Lebensmittelhändler, Biobauern, Journalisten, die Texte von Roboterreportern editieren, und so weiter.
Die sozialen Effekte solcher Entwicklungen sind enorm und zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer vorstellbar. Sie bedeuten nicht das Ende der Beschäftigung, vielleicht aber das Ende der Lohnarbeit. Der Niedergang der abhängigen Beschäftigung und die damit einhergehende wachsende Zahl von Selbstständigen ist eine riesige Herausforderung für die sozialen Sicherungssysteme und die Rentenversicherung.
Ebenso wie im 19. und 20. Jahrhundert, zu Zeiten intensiver Mobilisierung, als die Regierungen viel in die Bildung investierten, müssen sich die Menschen jetzt an neue Anforderungen des Produktionssystems anpassen - eine Herausforderung, die genauso anspruchsvoll ist, wie jede andere zuvor.
Der Franzose Charles-Edouard Bouée ist seit 2014 Chief Executive Officer (CEO) der Unternehmensberatung Roland Berger.
Die Fragen stellte Manuela Kasper-Claridge.