documenta: Das Ende der "Stunde Null”
18. Juni 2021Die neuesten historischen Erkenntnisse sind erst ein paar Tage alt: documenta-Mitgründer und Kunsthistoriker Werner Haftmann (1912-1999) war nicht nur NSDAP-Mitglied. Ab 1944 war er aktiv bei Kriegsverbrechen in Norditalien involviert, so die Erkenntnisse des Deutschen Historischen Museums (DHM). "Was wir eindeutig wissen, ist Haftmanns aktive Beteiligung an der Partisanenbekämpfung. In diesen Aktionen sind Zivilisten erschossen worden und Verdächtige wurden gefoltert", sagt der mit der Recherche betraute Historiker Dr. Carlo Gentile.
Kontinuität statt radikaler Abgrenzung zu Nazi-Deutschland
Der Kontrast zu dem Programm, das sich die documenta bei ihrer Erstausgabe 1955 auf die Fahnen geschrieben hatte, ist grell. Sie wollte nichts weniger als eine "Stunde Null" in der Kunst: eine radikale Abgrenzung vom Nationalsozialismus und Rehabilitierung der von den Nazis als "verfemte Kunst" beschlagnahmten, diffamierten und vernichteten Kunstwerke - und ihrer Macherinnen und Macher.
Dass jedoch das Schweigen und Verbergen der eigenen Nazi-Vergangenheit auch das kuratorische Programm prägte, zeigt nun die DHM-Ausstellung. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Julia Voss konnte nachweisen, dass Haftmann nicht nur Kunstwerke, die die Gewalt und Morde im Dritten Reich thematisierten, ausschloss, sondern auch betroffene Künstler: "Menschen, die ermordet worden waren - jüdische aber auch politische Künstlerinnen und Künstler - tauchen auf der documenta nicht auf", so Voss.
Unterschlagung von Gewaltopfern des Dritten Reichs
Werner Haftmann behauptete in kunsthistorischen Schriften, dass unter den deutschen modernen Malern des 20. Jahrhunderts kein einziger Jude gewesen sei. Das stimme nicht, und das habe er auch gewusst, sagt Voss. Den Matisse-Schüler Rudolf Levy, zum Beispiel, müsse er aus seiner Zeit in Florenz persönlich gekannt haben: Levys Atelier lag in unmittelbarer Nähe des kunsthistorischen Instituts, an dem Haftmann arbeitete.
Die von den Nazis als "entartet" diffammierte Künstlerkollegin Emy Roeder, die ebenfalls in Florenz im Exil war, berichtete von Levys Deportation 1943. Ihre Briefe - auch nach 1945 - stehen in scharfem Kontrast zu Haftmann, der alles tat, um die Gewaltverbrechen zu unterschlagen. Die Schriftstücke zeigen, wie viel über die Verbrechen und auch das spätere Schweigen den Zeitgenossen bewusst und bekannt war.
Levy etwa tauchte zwar auf einer Vorschlagsliste für die documenta auf, wurde dann aber gestrichen. Jüdische Künstlerinnen und Künstler, die im Holocaust ermordet wurden, kamen in den Schauen 1 bis 3, die Werner Haftmann von 1955 bis 1964 gemeinsam mit Arnold Bode verantwortete, nicht vor.
Das DHM stellt nun die Werke von Levy aus: Sie wirken wie ein Mahnmal - für das Verdrängen, Verschweigen und Vertuschen der Täter. Und für die unliebsamen Kontinuitäten im Personal vor und nach 1945 - auch in der Kunstwelt. Werner Haftmann leitete im Anschluss an die documenta viele Jahre die Neue Nationalgalerie in Berlin und publizierte über die Kunst des 20. Jahrhunderts - seine eigene Biografie thematisierte er nicht.
Schmerzende Leerstellen
Fast die Hälfte derjenigen, die an der Organisation der ersten documenta mitwirkten, seien Mitglieder von NSDAP, SA oder SS gewesen, so Voss. Ein nicht ungewöhnlicher Anteil für die junge Bundesrepublik, aber schon eine eher hohe Zahl im Vergleich zu anderen Bereichen, wie die Zeithistorikerin Dorothee Wierling im Kuratoren-Team einordnen konnte. Die Interdisziplinarität der Ausstellungsmacher hat der Qualität der aktuellen Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" zweifelsohne sehr gut getan.
So kontextualisiert die Ausstellung im DHM die ausgestellten Kunstwerke mit historischen Quellen, lässt aber auch der Wirkungsmacht der Kunst viel eigenen Raum. Zu sehen sind 390 documenta-Exponate, etwa von Max Beckmann, Willi Baumeister, Joseph Beuys, Hans Haacke, Seraphine Louis, Wolfgang Mattheuer, Emy Roeder, Andy Warhol oder Fritz Winter.
Neben den Beziehungen zum Nationalsozialismus werden auch Schlaglichter auf andere Leerstellen in der documenta-Programmierung geworfen: So kamen kommunistische Künstlerinnen und Künstler genauso wenig vor wie jüdische, überhaupt diente sie einer Anbindung an die westliche Moderne, die viele andere Strömungen ausklammerte. Und sie war, wie der dänische Kurator Lars Bang Larsen ausführt, lange eine patriarchale Angelegenheit.
Kunst: keine Antwort, aber bessere Fragen
Vor allem sei das kontinuierliche Hinterfragen des künstlerischen Kanons, das die Ausstellung anrege, produktiv, findet Julia Voss. Die Erkenntnis, dass dieser Kanon systematische Lücken hatte und hat, lässt Verlorenes wiederentdecken. Zum Beispiel Rudolf Levy. "Und dieser Prozess wird weitergehen", ist sie sich sicher.
So ist es ein echter Mehrwert, den die historische Schau dem zeitgenössischen Kunstbetrieb da liefert, eine Aufforderung zu mehr Genauigkeit und Unabhängigkeit, auch im Heute. Julia Voss blickt optimistisch auf die Auswirkungen. Das große documenta-Versprechen sei eines von Freiheit und Unabhängigkeit, so Voss: "Wir sehen jetzt die Schwachstellen viel deutlicher." Sie selbst sei wahrscheinlich kritischer als je zuvor. "Aber das macht es noch viel spannender, zu sehen wie die Antwort auf der nächsten documenta sein wird. Ich freue mich sehr darauf."
Die Ausstellung "documenta. Politik und Kunst" ist vom 18. Juni 2021 bis 9. Januar 2022 im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums in Berlin zu sehen. Die documenta 15 findet vom 18. Juni 2022 bis 25. September 2022 in Kassel statt.