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Dreistes Kalkül

Rainer Sollich 10. Januar 2003

Nordkorea steigt aus dem Atomwaffensperrvertrag aus: Dies ist ein Erpressungsversuch, dem man aber mit diplomatischen Mitteln begegnen sollte, meint Rainer Sollich.

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Ausgerechnet in dem Moment, in dem die USA etwas nachgeben im Streit um Nordkoreas Atomprogramm und auf Drängen Südkoreas vorsichtig Dialogbereitschaft bekunden, kommt aus Pjöngjang die nächste Provokation - und das gleich eine Spur härter: Nachdem das Regime im Oktober bereits freimütig die Fortsetzung seines zivilen Atomprogramms eingestanden hatte und die Kontrolleure der Internationalen Atomenergiebehörde das Land verlassen mussten, kündigt Nordkorea nun auch noch seinen Rückzug aus dem Atomwaffensperrvertrag an. Und die Welt ist in heller Aufregung.

Diese Vorgehensweise ist dreist. Aber so unberechenbar das Handeln dieses Regimes auch erscheint, bei näherem Hinsehen folgt Pjöngjang doch einem rationalen Kalkül: Kim Jong Il weiß genau, dass die USA gegenüber Pjöngjang nicht ohne weiteres eine ähnliche militärische Drohkulisse aufbauen können wie gegenüber dem Irak. Da Nordkorea nach US-Einschätzung möglicherweise ohnehin schon über ein, zwei Atombomben verfügt, wäre das Risiko eines atomaren Konflikts einfach zu hoch. Zudem sind im Falle Nordkoreas aus geopolitischen Gründen auch russische und vor allem chinesische Interessen viel stärker berührt. Ein amerikanischer Alleingang scheidet damit praktisch aus.

Was also tun? Zunächst einmal ist nach den Motiven Nordkoreas zu fragen - und da sind im wesentlichen zwei zu erkennen: Erstes und vorrangiges Motiv scheint die Wiederaufnahme der amerikanischen und europäischen Heizöllieferungen zu sein, die nach Bekanntwerden der Wiederaufnahme des Atomprogramms eingefroren worden waren. Ein lupenreiner Erpressungsversuch, der allerdings auch zeigt, wie verzweifelt das Land auf Hilfe von außen angewiesen ist.

Das zweite Motiv hängt unmittelbar mit dem ersten zusammen und wirft die größten Schwierigkeiten auf: Es ist das Bedürfnis nach einer grundsätzlichen Erhöhung der eigenen Verhandlungsstärke über den jetzigen Konflikt hinaus. Das hoffnungslos verarmte Nordkorea ist international derart isoliert, dass es tatsächlich gewisse Erpressungspotenziale benötigt, um seine Interessen gegenüber anderen Ländern durchsetzen zu können. Die Welt ist hier mit einem anachronistischen Regime konfrontiert, das seine Bevölkerung eher verhungern lässt, als die eigene Herrschaft in Frage zu stellen. Zur Stabilisierung nach innen benötigt dieses Regime Hilfen von außen. Und um diese Hilfen erzwingen zu können, benötigt es wiederum die Fähigkeit, atomar oder auf andere Weise militärisch drohen zu können. Es steht zu fürchten, dass Nordkorea dieses Instrument nur für einen sehr hohen Preis aus der Hand geben würde - wenn überhaupt.

Soll der amerikanische Präsident George W. Bush die Herausforderung annehmen und beispielsweise den Verbündeten Japan atomar aufrüsten? Gewiss: Ein atomares Wettrüsten in Ostasien könnte, ähnlich wie einst im Fall der Sowjetunion, theoretisch über kurz oder lang zum Kollaps des nordkoreanischen Regimes führen. Wenn da nicht der mächtige Nachbar und traditionelle nordkoreanische Verbündete China wäre, der kein Interesse an einem Zusammenbruch Nordkoreas haben kann. China hat aber sehr wohl starkes Eigeninteresse an einer atomwaffenfreien Umgebung und an grundlegenden Wirtschaftsreformen in Nordkorea, um den Flüchtlingsstrom ins eigene Land zu stoppen. Und es verfügt nach wie vor über einen gewissen Einfluss auf Nordkorea. So unbefriedigend es ist, durchsichtigen Erpressungsversuchen nachgeben zu müssen: Dies ist noch immer die Stunde der Diplomatie. Und es ist jetzt vor allem wichtig, die Chinesen mit an Bord zu haben.