Droht ein harter Brexit durch die Hintertür?
14. November 2019"Gebt Boris Johnson nicht die Chance für einen sehr harten Brexit", mahnt David Gauke. Der ehemalige Justizminister gilt als Anführer der Gruppe von prominentesten Brexit-Rebellen - der sogenannten "Gaukeward Squad". Das Wortspiel mit seinem Namen bedeutet etwa "Truppe der Querköpfe", ihre Mitglieder boten dem Premierminister und seinen Brexit-Plänen im September die Stirn und schieden aus der Konservativen Partei aus.
Jetzt tritt Gauke in seinem Wahlkreis als Unabhängiger an und agitiert gegen seine frühere Partei. Außer ihm tun das drei weitere der ursprünglich 21 Rebellen, darunter der frühere Generalstaatsanwalt Dominic Grieve. Zwei weitere Abgeordnete sind zu den Liberalen übergetreten, die Mehrzahl hat sich frustriert zurückgezogen.
Harter Brexit durch die Hintertür?
Es wäre nicht verwerflich, sagt David Gauke, wenn auch langjährige treue Unterstützer der Konservativen sich bei dieser Wahl anders entscheiden und etwa die Liberalen wählen würden. Er selbst kämpfe inzwischen sogar für ein zweites Referendum, weil er keine Chance mehr sehe, das Land mit einem weichen Brexit wieder zusammenzuführen.
Gauke hat den Verdacht, dass Boris Johnson nunmehr einen harten Brexit durch die Hintertür anstrebt. Indem der Premierminister jede Verlängerung der Übergangsperiode im nächsten Jahr ausschließt, sei es quasi unausweichlich, dass Großbritannien Ende 2020 die EU ohne Abkommen verlässt, argumentiert Gauke. Das war zuletzt - auch mit Hilfe der Gauke-Rebellen - noch verhindert worden.
Doch selbst wenn Johnson es versuchen würde: "Ich glaube, dass der Premierminister politisch nicht imstande sein wird, die Übergangsperiode zu verlängern. Die Rechten in der konservativen Partei werden ihm das nicht erlauben", sagt Gauke im Interview mit der "Times". Das hieße, dass Großbritannien in 13 Monaten allein auf der Basis von WTO-Regeln den harten Brexit faktisch nachholen würde. Denn der Abgeordnete geht davon aus, dass innerhalb eines halben Jahres kein neuer Handelsvertrag mit der EU zustande kommen kann.
Gibt es einen Deal mit der Brexit-Party?
"Wir haben einen Verdacht, was Boris Johnson will", sagt dazu Anand Menon, Professor am Londoner King's College und Brexit-Spezialist beim Thinktank "UK in a changing Europe". Aber man wisse eben nicht wirklich, was sein Ziel sei, und das mache die Situation noch gefährlicher und unberechenbarer als vorher. Bei Johnson könne man sich nie sicher sein, dass er Zusagen einhält oder seine Absichten deutlich macht.
Nachdem es ihm am Wochenende gelungen war, die Brexit Party von Nigel Farage in allen Wahlkreisen, in denen auch Konservative antreten,zum Rückzug zu bewegen, stellt sich die Frage umso mehr. Man wolle die Pro-Brexit Stimmen nicht spalten, sagte Farage dazu. Aber was hat er dafür bekommen? Etwa das Versprechen zu einem harten Brexit?
"Wir wissen nicht, was das für ein Deal ist", sagt Menon, aber natürlich hätten Leute aus der konservativen Partei mit Leuten aus der Brexit-Partei gesprochen. Ein Premierminister habe viele Pfründe zu vergeben, und man werde sehen, was Nigel Farage am Ende mehr motiviere: Geld oder Ruhm? Außerdem habe er vielleicht auch aus der Not eine Tugend gemacht, weil er möglicherweise ohnehin nicht genug Kandidaten für alle 600 Wahlkreise gehabt hätte.
Die Konservativen stiegen sofort in den Umfragen und liegen jetzt zehn Punkte vor der Labour Party. "Das heißt nicht, dass alles vorbei ist", sagt Menon. Viele Briten seien noch unentschlossen und der Brexit mache die Wahlen unvorhersehbarer als andere, denn der EU-Austritt spaltet die Wählerquer durch die alten Partei-Allianzen hindurch.
Handelsabkommen in Rekordzeit?
Ein super Freihandelsabkommen mit der EU "Canada++" verspricht Boris Johnson, ohne dass man sich dafür weiter an EU-Regeln halten müsse. Aber ist das nur ein weitere Brexit-Chimäre, eine reine Phantasievorstellung? Das größte Problem dabei ist die Zeit.
Laut Johnson ist das ohne Probleme in einem halben Jahr zu schaffen, aber für das Abkommen mit Kanada hat man sieben Jahre gebraucht. Ein sehr reduziertes Freihandelsabkommen, in dem nur Zölle und Warenverkehr geregelt werden, sei zwar schneller zu schaffen, meint John Springford vom Thinktank "Centre for European Reform", aber nicht in den verbleibenden elf Monaten im nächsten Jahr. Denn die Verhandlungen mit Großbritannien können überhaupt erst nach dem Brexit am 31. Januar 2020 beginnen.
Zuvor aber muss die EU ihrem Chefunterhändler Michel Barnier ein Mandat erteilen, in dem die Mitgliedsländer ihre Richtlinien niederlegen. Und dafür müssen sie wissen, was die Briten wollen und welche Auswirkungen für sie daraus entstehen. Bis zum Start der Gespräche dürften also weitere Wochen oder Monate vergehen.
Und schließlich gibt es die inhaltlichen Hürden: Die EU will kein "Singapur an der Themse". Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte schon im Oktober vor einem Konkurrenten Großbritannien gewarnt, der sich nicht mehr an europäische Regeln und Standards hält. Die Angleichung der Regeln für Staatshilfen, Umwelt- und Arbeitsbedingungen, wird also eine zentrale Rolle spielen. "Hier wird die EU ihren Preis fordern", sagt Springford, deshalb könnten die Gespräche ziemlich schnell auf Grund laufen.
Der Handelsexperte glaubt außerdem, dass Boris Johnson in dieser Frage einfach ein weiteres Mal umkippen und doch um eine Verlängerung der Übergangszeit bitten wird: "Boris Johnson tut, was ihn an der Macht hält", sagt er. Und wenn er eine ausreichend große Mehrheit im Parlament bekommt, könne er es sich leisten, auf ein paar Hard-Liner zu verzichten. Besser aber sei es für den Premierminister, mit einer weiteren Übergangsphase zumindest in einen schlichten Freihandelsvertrag hineinzugleiten, als mit dem Chaos und den Problemen nach einem harten Brexit fertig werden zu müssen.
Ob hier die Mahner Recht haben, die dem britischen Premier unterstellten, er habe sich schon insgeheim einem Austritt ohne Abkommen verschrieben, oder die Beobachter, die ihn am Ende für absolut pragmatisch halten, wird sich im nächsten Jahr zeigen. In diesem Wahlkampf jedenfalls tobt weiter der Krieg der Worte und der Brexit bleibt bestimmendes Thema, auch wenn Tories wie Labour versuchen, über das Gesundheitssystem oder den Wohnungsmangel zu reden. Dazu haben beide Seiten inzwischen so exorbitante Versprechen gemacht, dass die Wähler vermutlich niemandem mehr glauben.