1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Duell mit dem Schweinehund

Joscha Weber2. September 2014

So fühlt sich also eine Königsetappe der Tour de France an: lang, steil, schmerzhaft - der Ötztaler Radmarathon verlangt alles von den gut 4000 Startern ab, physisch wie psychisch. Mittendrin: DW-Reporter Joscha Weber.

https://p.dw.com/p/1D5FK
Gute Beine, schlechte Beine: DW-Reporter Joscha Weber fuhr beim Ötztaler Radmarathon über die Alpen (Foto: Andrea Küppers/DW)
Gute Beine, schlechte Beine: DW-Reporter Joscha Weber erlebte beim Ötztaler Radmarathon Hochs und TiefsBild: DW/A. Küppers

Pechschwarz liegt die Nacht über dem Ötztal, Wolken umwabern die benachbarten Alpen-Gipfel, die Sonne muss sich noch irgendwo dahinter verstecken. Es ist noch keine sechs Uhr in der Früh, doch auf den Straßen in Sölden herrscht bereits Hochbetrieb. Aus den Hotels und Pensionen des Skiorts strömen Hunderte Radfahrer, dick eingepackt in Regenbekleidung. Noch ist es zwar trocken, aber der Wetterbericht hat für heute Regen angekündigt. Auch mein erster Blick geht sorgenvoll nach oben als ich zum Start rolle. Bei einem Tagesprogramm von 230 Kilometern mit vier zu bezwingenden Bergpässen und 5200 Höhenmetern kann man als Radsportler Regen in etwa so gut gebrauchen wie Reißzwecken auf der Straße.

Aber in solchen Situationen hilft nur eins: Optimismus. Wird schon werden. Das gilt auch für die Strapazen, die vor uns 4100 Startern liegen: besser gar nicht so genau drüber nach denken. Als um 6:45 Uhr der Startschuss fällt, bleibt ohnehin kaum noch Zeit für Gedanken. In hohem Tempo geht es 31 Kilometer lang leicht talwärts. Da ich weit hinten gestartet bin, versuche ich, vor dem ersten Berg etwas nach vorne zu kommen. Unterlenkerposition und Druck aufs Pedal - was solls, noch sind die Beine ja frisch. Mit Tempo 50 bis 60 rausche ich durch das Ötztal, bis ich plötzlich vor einer Wand stehe: In der Ortschaft Ötz biegt die Straße rechts weg und steigt steil an. Es geht hinauf zum Kühtaisattel. 18,5 Kilometer mit 1200 Metern Höhenunterschied, hier sortiert sich das Feld bereits in viele Einzelteile.

Pferde galoppieren durchs Feld

Vor, neben und hinter mir: Schnaufen. Mal leise und gleichmäßig, mal schon bedenklich laut und heftig. Ackern müssen hier bei teilweise 18 Prozent Steigung alle - egal, ob sie ein 1000-Euro-Rennrad fahren oder eines für 10.000 Euro, wovon hier einige zu sehen sind. Die direkt am Straßenrand grasenden Kühe interessiert das alles wenig, sie heben nicht mal den Kopf. Ein paar Kilometer weiter oben zeigen sich dagegen ein paar Pferde deutlich interessierter am Renngeschehen: Mit wehender blonder Mähne galoppieren die Haflinger mitten durch das Fahrerfeld. Nur weil bergauf alle langsam fahren, geht die Szene glimpflich aus.

Tierisches Duell: Pferde "begleiten" die Teilnehmer des Ötztaler Radmarathons (Foto: Andrea Küppers/DW)
Tierisches Duell: Pferde "begleiten" die Teilnehmer des Ötztaler RadmarathonsBild: DW/A. Küppers

Schneller als gedacht erkenne ich die 2020 Meter hoch gelegene Passhöhe vor mir. Ein gutes Zeichen, die Beine fühlen sich locker an - noch. Oben in Kühtai klatschen uns Hunderte Zuschauer frenetisch Beifall, Tour-de-France-Atmosphäre kommt auf. Mit den Anfeuerungsrufen im Ohr stürze ich mich mit einer kleinen Gruppe in die Abfahrt hinab nach Innsbruck. Ebenso steil wie die Straße auf der anderen Seite anstieg, fällt sie nun ab. Schnell braucht man nicht mehr zu treten, ich mache mich klein auf dem Rad. Und das muss ich auch, um nicht den Anschluss zu verlieren. Während ich meinen Mitstreitern in der Abfahrtshocke hinterherjage, schiele ich mit einem Auge auf den Tacho unter mir: 104 km/h. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, während ich spüre, wie das Rad unter mir vibriert. Ich fahre wie in einem Tunnel: volle Konzentration auf das, was vor mir liegt, die Peripherie verwischt im Rausch der Geschwindigkeit. Die nächste Kurve naht, abbremsen, wieder antreten, Geschwindigkeit aufnehmen. Auch Abfahrten kosten Körner.

Süß-klebrige Begleiter gegen den Hungerast

Und plötzlich sind wir in Innsbruck. Die Straße wird flach, die Geschwindigkeit wieder moderater. Zeit, die Beine auszuschütteln, einen Energieriegel aus der Trikottasche zu kramen und sich zu orientieren: Dort rechts vor uns erkenne ich die Skisprungschanze am Bergisel, dort muss es in den nächsten Berg gehen: den Brenner. Durch das stetig ansteigende Tal der meistbefahrenen Transitstrecke der Alpen führt unser Weg Richtung Italien. Inzwischen auf mehr als 200 Fahrer angewachsen macht unsere Gruppe Tempo auf dem Weg hinauf zur Grenze. Dort steht zum Glück eine Bekannte und reicht mir zwei neue Trinkflaschen, in den ersten beiden ist kein Tropfen mehr drin. Ich habe mir vorgenommen, viel zu trinken, um Krämpfe zu vermeiden. Und auch dem zweiten großen Feind der Radsportler will ich keine Chance geben: dem Hungerast. Also flöße ich mir unaufhörlich süß-klebrige Gels ein. Geschmack: Erdbeere. Oder sagen wir, das, was sich die Lebensmittelchemiker unter Erdbeere vorstellen. Bestimmt kein kulinarischer Leckerbissen, aber momentan der Sache dienlich.

Das Starterfeld des Ötztaler Radmarathons (Foto: Ötztal Tourismus)
Kultstatus: 4100 Starter hat der Ötztaler Radmarathon. Es könnten aber mehr als 20.000 seinBild: Ötztal Tourismus/Foto: Ernst Lorenzi

Wieder geht es in rasendem Tempo talwärts und ehe ich Zeit hatte darüber nachzudenken, ob ich mir vielleicht nicht doch besser eine wärmende Windweste anziehen sollte, sind wir schon unten in Sterzing, wo der Jaufenpass beginnt. Am Fuße des Anstiegs sagt mir ein Bekannter, dass wir ziemlich schnell unterwegs sind, eine Zeit von 8:30 Stunden sei möglich. Ich bin baff. Als Neuling beim Ötztaler hatte ich mir nicht viel ausgerechnet, zumal die Berge gar nicht so mein Ding sind. Aber heute läuft es rund und die Prognose meines Bekannten motiviert mich. Ich trete schneller in die Pedale. Plötzlich kriege ich Angst vor der eigenen Courage: Muss ich am noch kommenden Timmelsjoch für mein hohes Tempo bezahlen? Ich wische den Gedanken weg. Momentan fühlt es sich gut an, also zieh' ich es durch. Das gilt übrigens auch für den späteren Sieger des Rennens. Der Italiener Roberto Cunico, entscheidet hier im nebligen Wald des Jaufenpasses das Rennen mit einer atemberaubenden Attacke und fährt den Anstieg 22 Minuten schneller hoch als ich - eine andere Welt.

Am Timmelsjoch wird die Luft dünn

Nach einer kurvenreichen, schlecht asphaltierten und technisch anspruchsvollen Abfahrt vom Jaufenpass hinab ins Passeiertal folgt die Stunde der Wahrheit, eigentlich sind es sogar zwei: Für die 29 Kilometer und gut 1800 Höhenmeter hinauf zum Timmelsjoch brauche ich nämlich mehr als 120 Minuten. Das Flow-Gefühl vom Jaufenpass ist weg, jeder Tritt fällt schwer und die Luft wird immer dünner. Weiter bis zur nächsten Kehre, sage ich mir. Bloß nicht nach oben schauen, damit ich nicht sehe, wie weit es noch ist. Weiter, einfach nur weiter, murmel ich und stelle lachend fest: Ich rede gerade mit meinen Beinen. Jens Voigt lässt grüßen. Es ist ein schier endloser, zermürbender Kampf mit meinem inneren Schweinehund.

DW-Reporter Joscha Weber muss am Timmelsjoch beißen (Foto: Andrea Küppers/DW)
Am Timmelsjoch werden die Beine schwer und die Luft dünn. Hier heißt es: durchbeißen!Bild: DW/A. Küppers

Auf 2509 Metern Höhe endet er dann doch. Der Gipfel ist erreicht, das Ziel jetzt ganz nah. Nur noch die finale Abfahrt hinab nach Sölden, auf der ich fast mit einer Kuh kollidiere, die hinter einer Kurve mitten auf der Straße steht. Puh, das ging nochmal gut. Das gilt auch für das Wetter: Erst auf den letzten vier Kilometern fängt es an zu regnen. Nass aber glücklich fahre ich nach 8:27 Stunden über den Zielstrich. Geschafft. Erst Stunden später, als in der Dämmerung die letzten Teilnehmer nach mehr als 13 Stunden Fahrzeit das Ziel erreichen, wird mir klar, dass ich großes Glück hatte. Völlig durchnässt und frierend überqueren die letzten Teilnehmer den Zielstrich. Sie erwischte das Unwetter noch in den Bergen, einige mussten entkräftet aufgeben, andere schafften es mit letzter Kraft ins Ziel. Dort stehen sie nun zitternd vor Kälte, eingehüllt in Decken, ihre Gesichter sind fahl, die Blicke leer. Der Regen prasselt unaufhörlich weiter und die Nacht legt sich wieder über das Ötztal. Ein langer Tag geht zu Ende.

Das Rennen:

Der Ötztaler Radmarathon ist der prestigeträchtigste Radmarathon Europas. Zum ersten Mal ausgetragen 1982, wuchs die Veranstaltung schnell und wurde zum Trendsetter. Die gut 4000 Startplätze sind jedes Jahr innerhalb von Minuten vergriffen, mehr als 20.000 Meldewünsche erhält Veranstalter Ernst Lorenzi jedes Jahr. Letzterer träumt von einem integrierten Profi-Rennen inklusive TV-Liveübertragung, wie er im Gespräch mit der DW sagte. Tatsächlich sind Profis längst im Feld dabei: Ex-Berufsradfahrer wie Jan Ullrich und Jörg Ludewig oder Top-Fahrer wie Sieger Roberto Cunico sorgen für ein hohes sportliches Niveau beim Ötztaler. Eine Entwicklung mit unerwünschten Nebenwirkungen: Dreifach-Sieger Emanuele Negrini wurde 2009 des Dopings überführt und gesperrt.

Mitarbeit: Andrea Küppers