Dunkle Wolken über Bratislava
15. September 2016Ratspräsident Donald Tusk
Mit "brutaler Offenheit" will der Vorsitzende der in Bratislava versammelten Regierungschefs die Fehler und Probleme der EU analysieren, um die Gründe für den Brexit zu erforschen. Um dann mit einer "Bratislava Roadmap" einen Weg aus der Misere zu weisen. Das klingt nicht nach einem Gute-Laune-Treffen.
Schon der Einladungsbrief von Tusk ist ein Dokument der Depression: "Die Menschen wollen wissen, ob die Eliten in Europa die Kontrolle über Ereignisse und Prozesse wieder erlangen können, die sie überwältigen, desorientieren und ihnen Angst machen. Viele denken heute (….), dass die EU-Mitgliedschaft Stabilität und Sicherheit im Wege steht." Eine Vision verbindet er mit seiner Analyse nicht. Und seine Rezepte stammen aus der politischen Küche der Osteuropäer: Er schlägt die Renationalisierung von Entscheidungen vor. In Brüssel wünschen viele, der frühere polnische Regierungschef würde positiver an den Gipfel herangehen.
Angela Merkel
Auch Angela Merkel räumt ein, Europa befinde "sich an einem entscheidenden Zeitpunkt", als sie am Mittag vor dem Gipfel in Paris Francois Hollande besuchte. Die Mitgliedsländer müssten schneller und effektiver arbeiten. Das gilt übrigens auch für Deutschland und Frankreich. Beide haben noch politische Projekte, etwa in der Ukraine. Aber sonst gibt es kaum Gemeinsamkeiten. Jetzt sollen neue Pläne für mehr Zusammenarbeit bei der Inneren Sicherheit und bei der Verteidigung die Lähmung überwinden.
Merkel setzt in der europäischen Krise auf politisches Schwarzbrot: Konkrete Projekte sollen den Menschen den Nutzen Europas zeigen. Auf jeden Fall kann man mit mehr Zusammenarbeit bei der Verteidigung Geld sparen und die Effektivität erhöhen.
Ihre Rundreise bei den osteuropäischen Ländern verlief für die Kanzlerin dagegen eher frustrierend: Die Meinungsverschiedenheiten liegen offen, vor allem bei der Flüchtlingspolitik. Solidarität findet nicht statt.
Die Visegrad-Staaten
Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn kommen mit einem eigenen Entwurf nach Bratislava. Sie wollen eine "kulturelle Gegenrevolution" in Europa. Dazu gehört die totale Ablehnung von Migration aus muslimischen Ländern, die Beschwörung des "christlichen Abendlandes" als einziger gemeinsamer Basis und die Rückgabe von europäischen Kompetenzen an die nationalen Hauptstädte.
Nach dieser Vision, vom ungarischen Regierungschef Viktor Orban vertreten und von der polnischen Regierung unterstützt, bestünde die EU künftig nur noch aus einem losen Verbund aus Nationalstaaten. Ende des Jahres will Warschau die entsprechende Änderung der EU-Verträge vorschlagen. Was die Osteuropäer dabei erhalten wollen, sind die Zahlungen aus der Brüsseler Kasse.
Der "Club Med"
Ausgerechnet der Grieche Alexis Tsipras, der mit seiner Dauerschuldenkrise Europa seit Anfang 2015 in Atem hält, hatte am letzten Wochenende zum Aufstand der Mittelmeerländer nach Athen geladen. "Wir sind viele und können Opposition machen", hatte der Italiener Matteo Renzi keck angemerkt. Denn auch Frankreich, Portugal und Spanien waren gekommen - wobei sich der amtierende Regierungschef Rajoy vertreten ließ. Er will mit dem Aufstand nicht direkt in Verbindung gebracht werden.
Ziel des "Club Med" ist es, den Stabilitätspakt aus den Angeln zu heben - nach der Devise: Geld spielt keine Rolle. Staatliche Investitionsprogramme sollen die Wirtschaft ankurbeln - die Forderung nach Reformen wird hintan gestellt. Auch die gemeinsame Übernahme von Schulden durch Eurobonds und eine europäische Arbeitslosenversicherung stehen auf der Wunschliste.
Brexit - der unsichtbare Gast
Die britische Premierministerin Theresa May ist nicht eingeladen. Aber der Brexit sitzt quasi als unsichtbarer Gast mit am Tisch. Er war Auslöser und Symptom dieser Krise und bleibt ein unbekannter Faktor. Solange London nicht den Artikel 50 und damit die Ausstiegsverhandlungen auslöst, bleibt offen, wie das künftige Verhältnis aussieht.