DVD-Tipp: Neuer Deutscher Film
2. Juli 2012"Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die man am Träumen hindert, nach kurzer Zeit sterben. In Deutschland hat man dieses Experiment mit den Cineasten gemacht." Der Regisseur Franz-Josef Spieker sagt diese Sätze 1965 in einer halbstündigen Dokumentation über den Neuen Deutschen Film. Da war es schon drei Jahre her, dass 26 Jungfilmer jenes berühmte "Oberhausener Manifest" unterzeichnet hatten, dass man heute gemeinhin als Geburtsstunde des modernen deutschen Nachkriegskinos feiert.
Am Anfang standen Fingerübungen
Man findet diese kurze Dokumentation auf der DVD "Provokation der Wirklichkeit - Die 'Oberhausener'", und sie ist mindesten ebenso aufschlussreich wie die vielen Kurzfilme, die hier zusammengetragen wurden von all den Unterzeichnern des Manifests, von denen die meisten heute vergessen sind. Dabei hat alles angefangen mit kurzen Formaten, mit Fingerübungen. Der Neue Deutsche Film begann in aller Kürze. Erst sehr viel später sollten die langen Spielfilme folgen, auch die Erfolge, die im Ausland wahrgenommen wurden. Alexander Kluges in Venedig ausgezeichneter "Abschied von Gestern" etwa oder Edgar Reitz' "Mahlzeiten".
Am Träumen hatte man sie lange gehindert, die deutschen Kinozuschauer damals in den 1950er Jahren. Mit klebrigen Kitschgeschichten auf grünen Wiesen und dunklen Wäldern vor allem, auch mit Soldatengeschichten, die meist immer nur die halbe Wahrheit erzählten. Insbesondere war es aber wohl auch die allzu konventionelle Erzählweise der Alt-Regisseure, die dann zum Bruch führte. Als das Oberhausener Manifest unterzeichnet wurde, da hatten einige der zum Aufbruch bereiten Köpfe schon die Filmkamera in die Hand genommen und gezeigt, wohin es gehen könnte mit einem neuen deutschen Kino.
Cool und jazzig
Und da es 26 Individualisten waren, kann man heute rückblickend auch nicht mehr von einem einheitlichen Stil reden, die Kurzfilme machen das deutlich. Wenn es auch Parallelen gab, stilistische wie inhaltliche. Man liebte das Schwarz-Weiß-Filmmaterial, die Farbigkeit der Heimatfilme hatte vieles überdeckt. Man liebte auch die Musik aus Amerika, cool und jazzig. Und man liebte die harten Schnitte, die intellektuellen, leicht distanzierten Kommentare aus dem off, wenn nicht ganz auf die Kommentierung verzichtet wurde. Doch sonst gingen die Erneuerer des deutschen Films ganz unterschiedliche Wege.
Herbert Vesely richtete seine Kamera bereits 1958 auf die Italiener in Deutschland. "Menschen im Espresso" nannte er seinen Film und er zeigte, wie anders man "beim Italiener" damals schon seinen Kaffee trinken konnte, fernab deutscher Filterkaffeegemütlichkeit. Manche gingen direkt ins Ausland. Pitt Koch nach Griechenland ("Glühendes Eiland Kreta"), wo er auf Kreta Urtümliches feierte, Raimond Ruehl nach Spanien, wo sein Film "Salinas" zeigte, wie man Salz gewann mit einfachen Werkzeugen und Muskelkraft. Auch Peter Schamoni verließ Deutschland, nahm seine Filmkamera mit und zeigte den Zuschauern, wie die deutsche Jugend nach Moskau reiste und dort feierte mit der kommunistischen Internationale ("Moskau ruft") und wenn das auch auf den ersten Blick etwas blauäugig wirkt, dann schleichen sich doch nach ein paar Filmminuten doch hintergründige Kommentare und ironische Kameraperspektiven ein, die das Völkertreffen ein wenig in Frage stellen.
Auf den Spuren der Kriegswunden
Andere blieben in Deutschland und spürten den Nachwirkungen des großen Krieges nach, aber ohne in melodramatische Erzählmuster zu verfallen. Ganz nüchtern und fast nur der Kraft der Bilder vertrauend. Bernhard Dörries und Edgar Reitz richteten ihre Kameras auf die Ruine der Münchner Staatsoper ("Schicksal einer Oper"), Alexander Kluge und Peter Schamoni nahmen in "Brutalität in Stein" das Nürnberger Parteitagsgelände in Augenschein und montierten Redefragmente von Hitler und Höß dazu. Auch so konnte man damals deutscher Vergangenheit begegnen, fernab jeder Landserromantik und Geschichtsklitterung.
So waren es auch deutsche Alpträume, die die jungen Filmemacher auf Zelluloid bannten, doch wollten sie das den Zuschauern ganz bewusst zumuten. Am Träumen gehindert hatten die Altväter des deutschen Nachkriegsfilms ihr Publikum schon zu lange. Setzt man einmal voraus, das Träumen etwas anderes sein kann als die Flucht in Träume à la Sissi und Wald- und Wiesenheil. Wieder andere experimentierten mit Filmmaterial und Ton, mit Montage und Zeichentrick. "Kommunikation" von Edgar Reitz etwa zeigt, wie sich die Technik der Kommunikation entwickelt hat, auch Ferdinand Khittl macht das in seinem Kurzfilm "Das magische Band". Bernhard Dörries Fragment gebliebener Film "Stunde X" könnte durchaus auf heutigen Großkunstevents wie der dOCUMENTA 13 gezeigt werden.
...Aufbruch lange vor '68
Und noch etwas anderes wird deutlich, wenn man die kurzen Filme vom Aufbruch des Neuen Deutschen Films heute wiedersieht und auch die wenig später entstandenen Selbstbespiegelungen wie "...Geist und ein wenig Glück". Es war ja nicht so, dass damals ein paar junge sympathische Regisseure die Bühne betraten in der Bundesrepublik der 60er Jahre und alle jubelten. Im Gegenteil. "Viel Wohlwollen wurde diesem Ansinnen damals nicht entgegengebracht", heißt es im Booklet der DVD, vielmehr wurden "die ersten Ausprägungen eines Neuen Deutschen Films (...) als eine Folge von Fehlstarts gesehen, zumal die Umsetzung des im Manifest formulierten Vorhabens der Erneuerung des konventionellen Kino-Spielfilms mindestens vier Jahre, also für Außenstehende viel zu lange, auf sich warten ließ." Dicke Bretter hatten die Regisseure damals zu bohren, das Epochenjahr 1968 war noch lange nicht in Sicht. Die Regisseure des Neuen Deutschen Films haben damals - zehn Jahre früher - mit dafür gesorgt, dass die Bundesrepublik weltoffener und freier im Kopf wurde. In der Bundesrepublik durfte wieder geträumt werden.
"Provokation der Wirklichkeit - Die 'Oberhausener'", Doppel-DVD mit diversen Kurzfilmen und Dokumentationen, Booklet in dt., engl., franz., erschienen in der "edition filmmuseum" (69).