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"Vereinfachungen kann ich mir nicht leisten"

12. Mai 2020

Goethepreisträger Dževad Karahasan spricht im DW-Interview über sein Verhältnis zur deutschen Sprache und Literatur und die Frage, warum die Aufarbeitung der Balkankriege der 1990er noch immer auf sich warten lässt.

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Dževad Karahasan
Bild: DW/M. Smajic

Deutsche Welle: Herr Karahasan, Sie sind Sohn muslimischer Eltern aus Bosnien und seit langem nicht nur ein literarischer Brückenbauer zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Islam und Christentum. Für Ihr literarisches Werk und Ihren Beitrag zur Verständigung der Kulturen und Religionen sind Sie gerade mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt geehrt worden, zu dessen Trägern auch Hermann Hesse und Thomas Mann zählen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?

Dževad Karahasan: Einen Preis entgegen nehmen zu dürfen, der einen großen Namen wie Goethe trägt, ist etwas ganz Besonders. Goethe ist einer der Autoren, mit dem ich mich fast obsessiv immer wieder beschäftige. Er ist ein großes Vorbild, war wahrscheinlich der erste und bedeutendste Schriftsteller Europas, der sich dem Dialog zwischen Ost und West, Islam und Christentum bemühte. Wenn ich als Brückenbauer zwischen den Kulturen bezeichnet werden darf, so als Nachfolger von Goethe.

Die deutsche Sprache hat Goethe viel zu verdanken. Sie sprechen selbst sehr gut Deutsch. Wie ist Ihr Bezug zum Deutschen?

Eine Sprache ist für mich vor allem Literatur, und auf Deutsch haben neben Goethe auch viele andere Autoren geschrieben, die mir viel bedeuten: Hoffmann, Kleist, Hauptmann, Rilke, Büchner… Ich könnte Ihnen über Büchner in Sarajevo etliche Anekdoten erzählen. Unmittelbar nach der Belagerung Sarajevos habe ich alle drei seiner Stücke ins Bosnische übersetzt und sie auf der Bühne des Nationaltheaters in der Hauptstadt inszenieren lassen. Damals in Sarajevo hatte Büchner eine geradezu 'zeitungsmäßige' Aktualität gehabt. Es war sehr spannend zu beobachten, wie die Leute auf Büchners Stücke reagieren: Alle hatten das Gefühl, dass er sie im 'Auftrag von Sarajevo' geschrieben hatte. Dass er dies etwa 170 Jahre vor der Aufführung tat, wirkte wie eine technische Kleinigkeit.

Warum hat man das Gefühl gehabt, dass Büchner diese Stücke für Sarajevo geschrieben hat?

Damals war fast jeder zweite Mann in Sarajevo ein Woyzeck. Oder wenn im Stück 'Leonce und Lena' Valerio zu Leonce sagt: "Ach Prinz, wir sind gerade sieben Stunden unterwegs und haben schon zwölf Staaten durchquert", da musste das Publikum vor Verzweiflung lachen, weil es seine Realität auf der Bühne wieder erkannte: Kleinstaaterei, eine Situation, in der jeder Idiot, der zwei Maschinengewehre besaß, sich zum Staatsmann erklären konnte, der Verfall aller Werte in der Gesellschaft…

Sie haben einmal gesagt, dass Sie das Gefühl haben, in Deutschland besser verstanden zu werden als in ihrer Heimat Bosnien und auf dem Balkan. Woran liegt das?

Das verdanke ich meiner großartigen Übersetzerin Katharina Wolf-Grießhaber. Sie hat meine Texte so gut übersetzt, dass man den Eindruck haben muss, dass sie auf Deutsch geträumt, gefühlt und gedacht wurden.

Die Gesellschaft in Deutschland ist eher eine kulturelle als eine ideologische Gesellschaft. Man bemüht sich, in komplexen Formen zu denken. Nicht in den Begriffen 'entweder - oder' sondern in Form von 'sowohl - als auch'. Man bemüht sich darum, die Komplexität aller Phänomene zu bewahren und zu begreifen. So denke ich auch. In Gesellschaften, die im Zerfall begriffen sind, neigt man zu Vereinfachungen. Ich kann mir das nicht leisten.

In Deutschland werden Sie für Ihren Einsatz für die Überwindung kultureller und politischer Grenzen bewundert. Auf dem Balkan dagegen bezeichnen Nationalisten Sie wegen Ihres Buches "Der nächtliche Rat", das von Tätern und Opfern in Bosnien handelt, als 'Serbenhasser'. Wie erklären Sie sich diesen Widerspruch?

Deutschland ist eine reife Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich mit ihrer Vergangenheit sehr gründlich auseinandergesetzt hat. Die versucht weniger ideologisch als ethisch zu denken. Ethisches Denken agiert anders, es handelt, denkt und bemüht sich um die Wahrheit, um die Komplexität der Dinge, nicht um die bloße Zugehörigkeit.

Ideologisches Denken dagegen ist einfach. Es kennt nur die binäre Opposition, Formen in denen das, was 'meins' ist, gut, schön und wahr ist – und was nicht 'meins' ist, böse, schwarz und unerträglich ist.

Das ethische Denken dagegen will nach der Wahrheit suchen. Das haben wir von den Griechen gelernt. Stellen Sie sich heute einen Schriftsteller vor, der über seinen Feind das Beste aussagt, wie es Homer über Hector in der Ilias tut. Das ist für mich ein Beispiel für ethisches Denken. Es ist an der Zeit, dass wir auf dem Balkan wieder die Ethik entdecken und über unsere Geschichte, unsere Schicksale ethisch zu denken versuchen.

Ich habe es gewagt, die Trennlinien in dieser ideologischen Form durchzubrechen und mich mit den menschlichen Schicksalen zu befassen, ohne dabei die Zugehörigkeit zu berücksichtigen. Oder, wie es Ina Hartwig treffen formulierte, in dem Roman, wie in meiner Literatur insgesamt, "ist das Fremde im Eigenen stets gegenwärtig".   

Warum ist die Aufarbeitung der Geschichte auf dem Balkan, 25 Jahre nach Ende des Krieges in Bosnien, noch immer so wenig fortgeschritten? Warum erscheint sie so vielen Leuten als unmöglich?

Ich glaube, es gibt technische und historische Gründe. Rein technisch gesehen gab es am Ende des 2. Weltkriegs absolut klare Sieger und Besiegte. Die Sieger konnten ihre Werte nicht nur gut artikulieren, sie konnten auch durch ihre Praxis beweisen, dass diese Werte das menschliche Leben besser machen. Es gelang Ihnen, die Besiegten zu überzeugen, diese Werte anzunehmen - aber auch ihre Würde zu bewahren.

In Bosnien gab es nichts davon. Der Krieg wurde einfach gestoppt. Alle drei Seiten, die sich bekriegt hatten, wurden zugleich zu Siegern und Besiegten erklärt. Alle Ergebnisse des Krieges wurden anerkannt, Bosnien wurde zu einem bürokratischen Monster… Heute ist es wahrscheinlich das einzige Land auf Erden, das keine Bürger hat - denn in der 'Dayton-Verfassung' werden Bürger Bosniens nicht erwähnt. In Bosnien leben keine Bürger, sondern nur Nationen: Serben, Kroaten, Bosniaken und andere. Wobei die Anderen keine Menschenrechte haben.

Wie Juden, Roma...

Juden, Roma, Jugoslawen, Bosnier und, und, und… Im Jahr 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach der Klage eines Juden und eines Rom beurteilt, dass auch Angehörige dieser Minderheiten in Bosnien das passive Wahlrecht haben müssen, also für Staatsämter kandidieren dürfen. Aber die 'Dayton-Verfassung' wurde bis heute nicht entsprechend geändert. Das ist einer der historischen Gründe, warum in Bosnien die Aufarbeitung der Vergangenheit stagniert.

Wie soll ich wie ein normales menschliches Wesen leben und funktionieren, wenn mich mein Staat und seine Gesetze auf bloße Zugehörigkeit reduzieren, wenn ich per Gesetz als Mitglied einer Nation fühlen, denken und handeln muss?

Als Sie am Beispiel des wegen Völkermords verurteilten ehemaligen bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić die Fähigkeit des Menschen zum Bösen generell beschrieben und dazu aufgefordert haben, Karadžić als Mensch und nicht als Monster zu betrachten, sind Sie vor allem in Bosnien auf viel Kritik gestoßen. Der Kriegsverbrecher als Mensch: Das war vielen in Sarajevo dann doch zu menschlich. Ähnliche Diskussionen gab es auch in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die prominenteste Vertreterin dieses Ansatzes war Hannah Arendt, vor allem in ihrem Bericht über den  Prozess gegen Adolf Eichmann. Sehen Sie sich in dieser Tradition?

Auf jeden Fall. Hannah Arendt hat sich bemüht, ethisch, nicht ideologisch zu denken, Dinge zu verstehen, nicht zu verurteilen. Wenn Sie einen Verbrecher zum Monster stilisieren, haben sie ihn begnadigt. Denn niemand kommt auf die Idee, einen Löwen wegen Mordes vor Gericht zu stellen. Es liegt in der Natur des Löwen, zu morden. Nur den Menschen stellen wir vor Gericht, wenn er mordet. Warum? Weil ein Mensch ethisch - und nicht animalisch - handeln soll, ja muss. Weil wir Menschen eben auch ethisch verpflichtet sind.

Karadžić ist leider mein Bruder Mensch. Ich muss mich bemühen, ihn - soweit es überhaupt geht - zu verstehen, um ihn beurteilen und verurteilen zu können. Aber so bequem, ihn einfach zu einem Monster zu erklären, zu behaupten, er besagt nichts über mich, ihn einfach so abtun? Nein, das ist zu bequem, soviel Bequemlichkeit ist uns auf Erden nicht beschieden.

Was glauben Sie, wann wird man ihre Art zu denken auf dem Balkan verstehen können?

Ich hoffe sehr, dass die heutigen Kinder und die jungen Leute, die heute meine Studenten sind, wenn nicht so, dann irgendwie ähnlich denken werden. Denn wir dürfen zwei Dinge nicht vergessen: Erstens, der wesentliche, alles entscheidende Unterschied zwischen einer barbarischen und einer zivilisierten Gesellschaft ist, dass eine barbarische Gesellschaft durch Angst regiert wird. In einer zivilisierten Gesellschaft herrschen Gesetze, keine Angst. Zweitens: Eine barbarische Gesellschaft funktioniert sehr oft als Menge, und in der Menge ist die Zugehörigkeit, das 'Wir-Gefühl', die Sehnsucht nach totaler Verschmelzung mit der Masse sehr stark. Eine zivilisierte Gesellschaft besteht aus einzelnen Menschen, freien Menschen, die ihre Zugehörigkeit artikulieren, überdenken und die sich für diese Zugehörigkeit entscheiden. Aktuell sind die Aussichten, so eine Gesellschaft auf dem Balkan zu schaffen, nicht groß. Dennoch will ich hoffen, dass meine Studenten eines Tages in so einer Gesellschaft leben werden.

Der bosnische Autor und Literaturwissenschaftler Dževad Karahasan wurde 1953 in Duvno (heute Tomislavgrad) geboren. 1993 floh er aus der umkämpften Hauptstadt Bosniens, Sarajevo. Deren Belagerung war Thema seines in zehn Sprachen übersetzten „Tagebuchs der Aussiedlung" sowie der Romane „Sara und Serafina" und „Schahrijärs Ring". Karahasans erstes Prosawerk „Der östliche Diwan" nimmt direkt Bezug auf Goethes „West-östlichen Diwan". Zuletzt erschien von ihm „Das Buch der Gärten", in dem er den Topos vom Paradiesgarten in der Bibel, im Koran und in orientalischen Märchen untersucht. Karahasan wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, etwa 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2012 mit der Goethe-Medaille und dem Heinrich Heine Preis. Der mit 50.000 Euro dotierte Goethepreis der Stadt Frankfurt soll ihm am 28. August diesen Jahres übergeben werden. Der Preisträger lebt in Graz und in Sarajevo.

Das Gespräch führte Jasmina Rose

Porträt einer lächelnden Frau mit blonden Haare und Bitte, im Hintergrund ist ein Schreibtisch mit einem Computerbildschirm zu erkennen
Jasmina Rose Redakteurin, Autorin, Reporterin