Afghanistan Sicherheitslage
28. November 2012DW: Die Petersberger Konferenz in Bonn jährt sich nun zum elften Mal. Unter anderem ging es langfristig dabei um die Gewährleistung der inneren Sicherheit durch die Afghanen. 2014 soll es mit dem Abzug der internationalen Truppen soweit sein. Wie schätzen Sie die Lage derzeit ein?
Michael Paul: Die derzeitige Sicherheitslage in Afghanistan ist schlecht und hat sich im Vergleich zu 2009 noch verschlechtert. Die Entwicklung der Sicherheitslage und die erfolgreiche Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Einheimischen hängen im Wesentlichen davon ab, dass der zahlenmäßige Aufwuchs und die Qualität afghanischer Sicherheitskräfte verbessert werden. Gemeint sind hier die Afghanische Nationalarmee (ANA) und die Afghanische Nationalpolizei (ANP). Die 352.000 Soldaten und Polizisten in Afghanistan erfolgreich auszubilden, davon hängt auch unmittelbar der geplante Abzug der ISAF-Truppen ab.
2014 werden die ISAF-Truppen das Land verlassen. Die internationale Hilfe konzentriert sich demnächst auf die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte. Sind die Afghanen schon in der Lage, für Sicherheit zu sorgen?
Man muss leider feststellen, dass der Aufbau der Afghanischen Nationalarmee (ANA) und der Nationalpolizei (ANP) jahrelang von Versäumnissen und Defiziten gekennzeichnet war. Strukturell zielten die politischen Bemühungen zunächst auf den Aufbau einer kleinen Hilfsbodentruppe, also einer Kampfeinheit gegen die Taliban. Dementsprechend waren die Investitionen gering und das Training eher rudimentär. Obwohl sich die Sicherheitslage signifikant verschlechtert hat, wird erst seit wenigen Jahren eine quantitative Aufstockung der Sicherheitskräfte geplant. In diesem Kontext spielt die Ausbildung für afghanische Polizisten und Soldaten eine wesentliche Rolle. Ich gehe davon aus, dass die afghanischen Sicherheitskräfte erst nach 2017 in der Lage sein werden, alle sicherheitsrelevanten Aufgaben selbst wahrzunehmen.
Wie viele Soldaten wurden schon ausgebildet?
Mir liegen keine Zahlen vor. Wenn man schon bei Zahlen ist, muss man auch wissen, dass die derzeit festgelegte Stärke von 352.000 Soldaten und Polizisten angesichts der enormen Kosten als nicht dauerhaft tragfähig gilt. Langfristig wird sich die Stärke, abgesehen von der Sicherheitslage, sicherlich auch an der afghanischen Wirtschaftsleistung orientieren müssen. Hier spricht man von etwa 220.000 Mann und Frau, auf die die afghanische Regierung nach 2014 schrittweise reduzieren möchte.
Viele Afghanen beklagen die schlechte Ausbildung der lokalen Polizei und den Analphabetismus vieler Polizisten. Ein lösbares Problem?
Der Analphabetismus stellt neben der Korruption zweifellos eines der größten Probleme in Afghanistan dar. Etwa 18 Prozent der Rekruten sollen weder lesen noch schreiben können. Man hat auch hier viel zu spät angefangen, afghanische Lehrer einzustellen und zu befähigen, den afghanischen Soldaten und Polizisten das Lesen und Schreiben beizubringen. Die Soldaten müssen komplizierte Waffensysteme bedienen. Lesen, Schreiben und weitergehende Fähigkeiten sind schon ganz entscheidend, um eine eigenständige und funktionsfähige Nationalarmee aufzustellen. Die Sicherheitsprobleme, die es nach wie vor gibt, haben die Probleme natürlich noch verschärft.
Als eines der großen Sicherheitsprobleme werden unter anderem die so genannten Insider-Attacken innerhalb der afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte angesehen, die das Vertrauen zwischen beiden Partnern sichtlich gestört haben. Kann man dieses Vertrauen wieder herstellen?
Das ist schwer. Die westlichen Länder möchten möglichst schnell die afghanischen Streitkräfte bis 2014 in die Fähigkeit zu setzen, eigenständig zu handeln. Der daraus entstandene Druck ist enorm. Man muss aber auch bedenken, dass westliche Umgangformen im Militär oft nicht mit afghanischer Höflichkeit übereinstimmen. So ist das Konfliktpotential vorprogrammiert. Man kann noch so gut schulen wie möglich, aber das ändert nichts daran, dass die afghanischen Soldaten und Polizisten dem Abzug der ISAF mit großer Sorge entgegensehen. Der daraus resultierende Druck trägt natürlich dazu bei, dass sich die Konflikte eher vergrößern als verringern. Wenn das Vertrauen erst mal beschädigt ist, kann man es schwer wiederherstellen.
Dr. phil. Michael Paul ist Senior Fellow und Projektleiter "Streitkräftedialog" an der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.