Rama: "Vergangenheit darf uns nicht behindern"
22. Oktober 2014Deutsche Welle: Herr Rama, Sie wollten als Premier Albaniens diese Woche nach Belgrad reisen, um Ihren serbischen Amtskollegen Alexander Vučić zu treffen. Warum wurde der Besuch verschoben?
Edi Rama: Serbien war nach dem Fußball-Länderspiel gegen Albanien und nach den Ereignissen auf dem Spielfeld und außerhalb des Stadions nicht mehr bereit, an dem Besuch zum vereinbarten Datum festzuhalten. Ministerpräsident Vučić rief mich an, um mir seine Sicht der Ereignisse mitzuteilen, und ich schilderte ihm meine Sicht, die in komplettem Gegensatz zu seiner steht. Aber wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nach vorne schauen und den gerade begonnenen Prozess voranbringen müssen, der von Bundeskanzlerin Angela Merkel am 28. August auf der Westbalkan-Konferenz in Berlin initiiert wurde. Auf dieser Konferenz saßen zum ersten Mal alle Staatsführer des Westbalkans zusammen - nicht um über Grenzen zu streiten, sondern um vereint den Weg politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenarbeit zu beschreiten.
Wie sehen Sie derzeit die Beziehungen zwischen Tirana und Belgrad?
Jeder kann sich denken, dass sich die Beziehungen nach den jetzigen Ereignissen im Belgrader Stadion in einer embryonalen Phase befinden. Mehr als ein Jahrhundert gab es keine Zusammenarbeit, politische Beziehungen waren auf ein Minimum reduziert, und alles, woran man sich erinnert, sind Krieg, Konflikte und Gegensätze.
Sind die albanischen und die serbischen Eliten überhaupt in der Lage, einen Dialog zu führen?
2014 war bisher das beste Jahr für den Balkan und seine Geschichte. Es ist das erste friedliche Jahr in der ganzen Region ohne Grenzkonflikte. Der Zufall wollte es, dass es dazu just 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges gekommen ist, der hier auf dem Balkan ausbrach. Ein bedeutender Zufall, der uns vor Augen führt, wie weit der Weg bis zu diesem Punkt war. Dieser Moment darf auf keinen Fall verspielt werden. Ich glaube fest, dass wir es schaffen, gemeinsam voranzuschreiten. Und ich bin entschlossen, alles zu unternehmen, um zu verhindern, dass sich die Vergangenheit in unseren Weg zu einem vereinten Europa stellt.
Dieser Frieden wurde durch das Ja der Völker dieser Region zu Europa erreicht. Dennoch ist es ein zerbrechlicher Frieden und zugleich ein zu großer Frieden, als dass er von einem einzigen Volk der Region allein geschultert werden könnte. Aus diesem Grund müssen wir Hand in Hand miteinander und mit dem vereinten Europa gehen. Und Europa seinerseits muss begreifen, dass es die Vereinigung mit dem Balkan ebenso nötig braucht, wie der Balkan Europa braucht. Der "Enlargement fatigue", der Erweiterungsmüdigkeit innerhalb der EU, steht inzwischen eine "Patience fatigue", eine Müdigkeit vom ewigen Warten und Geduldig-sein-müssen bei den Länder des Balkans gegenüber. Wir müssen alles dafür tun, dass uns diese Müdigkeit nicht in unseren Bemühungen um die Zukunft behindert, denn die Folgen wären katastrophal für beide Seiten.
Die albanischen Fußballspieler haben auf dem Feld die Flagge "Großalbaniens" verteidigt. Sie, Herr Rama, sagten, Sie seien stolz auf die Spieler. Ist diese Flagge Ihre Flagge?
Zwei Sachen haben mich tief beeindruckt: Zum einen hat es eine Banderole mit einigen albanischen Nationalsymbolen - die weder unsere Nationalflagge, noch die Flagge irgendeines "Großalbaniens" ist, sondern ein fliegendes Schreckgespenst, das auch wir zum ersten Mal sahen - geschafft, solch eine große politische Raserei in Belgrad zu provozieren. Ich hatte erwartet, dass das Spiel "heiß" werden würde, schließlich ist ein Länderspiel Serbien-Albanien zweifellos ein Derby auf dem Balkan.
Aus diesem Grund habe ich auch unseren Fans abgeraten, nach Belgrad zu reisen. Aber dass in dem Belgrader Stadion 40 Minuten lang geschrien würde "Tötet die Albaner! Tötet die Albaner! Tötet die Brüder der Kroaten!" - das hatte ich mir nicht vorstellen können. Ebenso wenig, dass die offizielle serbische Rhetorik nach dem Spiel in die rassistischen anti-albanischen Chöre international geächteter Hooligans einstimmen würde, die auf das Spielfeld gerannt waren, um unseren Spielern Stühle auf die Köpfe zu schlagen.
Und zweitens - und das war die Höhe: Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass westliche Medien dermaßen die Balance in ihrer Berichterstattung zugunsten der propagandistischen staatlichen serbischen Presse verlieren und meinen Bruder als Verursacher des Aufruhrs deklarieren, ohne ihn oder zumindest eine andere Quelle zu befragen. Wie kann eine Person weltweit öffentlich gelyncht werden, durch seriöse und für ihre Ethik bekannte Medien, ohne dass man ihn zu seiner Sicht der Dinge befragt?
Und wie kann es sein, dass sich namenhafte Medien diesem Stückchen Stoff widmen und nicht dem Rassismus und der physischen Gewalt gegen die Gastmannschaft bei einem EM-Qualifikationsspiel - nur weil die angeblich verantwortliche Person der Bruder des Premierministers dieses Landes ist? Was unsere Spieler betrifft, bin ich stolz, dass sie nicht in die schreckliche Falle psychischer und physischer Gewalt getappt sind, sondern besser als die Serben spielten, viele Chancen hatten und ohne Zweifel mit Würde spielten.
Lassen Sie uns zu der Symbolik zurückkehren: Wie groß ist die Gefahr eines "großalbanischen" Nationalismus in der Region?
Der Begriff "Großalbanien" spiegelt eine Urangst der Serben wider – es ist nicht ein albanisches Projekt! "Großalbanien" steht auf keiner politischen Agenda, keine politische Partei in Albanien verfolgt dieses Ziel. Und nicht einmal der träumerischste albanische Nationalist erkennt in der Banderole über dem Belgrader Stadion seinen Traum. Die meisten Albaner wollen ein "Großeuropa" mit Albanien, Kosovo und allen Ländern der Region, in denen sie leben, innerhalb der EU. Ohne Zweifel ist der Nationalismus eine große Gefahr in einer Region, in der Arbeitslosigkeit und Armut grassieren.
Hinzu kommen soziale Missstände und das Gefühl, vom vereinten Europa ausgeschlossen zu sein. Man darf auch nicht vergessen, dass der Balkan eine multiethnische und multireligiöse Region ist. Diese Tatsache macht das friedliche Zusammenleben, das wir erreicht haben, noch wertvoller, erhöht aber auch das explosive Potenzial, sollte der Frieden nicht durch europäische Projekte für Integration, Zusammenarbeit, Beschäftigung und Produktivität unterstützt werden.
Wie steht Albanien zu den Albanern in den Nachbarländern Kosovo, Serbien, Mazedonien, Montenegro und Griechenland?
Unsere Haltung ist klar wie das Licht der Sonne: Vereint auf dem Weg nach Europa!
Edi Rama ist seit 2013 Ministerpräsident Albaniens. Er ist auch Vorsitzender der Sozialistischen Partei Albaniens. Zeitweise hat sich Rama in der Vergangenheit auch künstlerisch betätigt und als Maler in Paris und Frankfurt ausgestellt.
Das Gespräch führte Sonila Sand.