Ehe, Sex und Begehren im Judentum
13. Juni 2024Man könnte meinen, dass das Judentum mit seiner dreitausendjährigen Geschichte auch zum Thema Liebesleben etwas zu sagen hat. Zumal das Judentum mit König Salomon und Sigmund Freud prägende Liebesexperten hervorgebracht hat. Jedoch geht es bei der Ausstellung mit dem doppeldeutigen Titel "Sex. Jüdische Positionen" im Jüdischen Museum Berlin um mehr als nur eine Dokumentation jüdischer Besonderheiten in der Welt der Sexualität.
Wie das Unvereinbare zusammenkommt
Zwei nebeneinander gehängte Bilder bilden eine Art visuelle Absichtserklärung der über hundert Exponate umfassenden Ausstellung: "Eine jüdische Hochzeit" des holländisch-jüdischen Malers Jozef Israëls aus dem Jahr 1903 und "A Jewish Wedding" des zeitgenössischen Fotokünstlers Yitzchak Woolf. Letztere zeigt ein homosexuelles Paar, das seine Ehe segnen lässt - zunächst nur im Bild, da keine Synagoge gefunden werden konnte, die dazu bereit war.
"In dieser Ausstellung geht es um das Verhältnis von Judentum und jüdischer Tradition zu sich wandelnden Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Lust", erklärt die in Berlin lebende deutsch-russische Publizistin und Filmemacherin Anna Narinsky ("Finde den Juden", 2020) gegenüber der DW. "Für die Sexualität gilt wie für jedes andere Thema der jüdischen Tradition, dass die religiösen Gesetze nicht starr sind, sondern durch Interpretationen, Diskussionen und Impulse an aktuelle Lebensrealitäten und veränderte gesellschaftliche Strukturen angepasst werden", bestätigt Museumsdirektorin Hetty Berg gegenüber der Berliner Zeitung.
Verurteilung des Zölibats
Los geht es mit der "Pflicht": Anders als das Christentum und viele andere Religionen verurteilt das Judentum das Zölibat strikt. Niemand darf sich dem Gebot "Seid fruchtbar und mehret euch" entziehen.
In der Tora heißt es, dass ein Mann seiner Frau gegenüber drei Pflichten hat: sie zu ernähren, zu kleiden und ihr eheliche Intimität zu gewähren. Und das am besten mindestens zweimal pro Woche. Das Gegenteil wird in einigen talmudischen Abhandlungen als hinreichender Scheidungsgrund angesehen, mit allen fälligen Zahlungen an die Frau, und zwar schon nach einer Woche ohne Aktivität im Bett.
Gleichzeitig wird in religiösen Büchern betont, wie wichtig die Zustimmung der Frau zum Geschlechtsverkehr ist. "Wenn du schließlich zur sexuellen Vereinigung bereit bist, vergewissere dich, dass die Absichten deiner Frau mit deinen übereinstimmen", lehrt beispielsweise Iggeret ha-Kodesh, ein kabbalistischer Text aus dem 13.
Die Tora verbietet aber nicht nur vorehelichen Sex, sondern auch andere Aktivitäten "ohne Zeugungsabsicht" - zum Beispiel Masturbation. Das wäre "Verschwendung des Samens". Auch während und nach der Menstruation müssen Frauen auf Intimität verzichten, erst sieben Tage nach der letzten Blutung und nach der Reinigung in der Mikwe, dem rituellen Tauchbad, dürfen - und müssen - sie wieder ins Ehebett.
Werke von LGBTQ-Künstlern - ein Protest gegen traditionelle Normen
Anders sein in einem traditionellen Wertesystem: Auch im Judentum ist das ein großes und oft schwieriges Thema. "In der Tora heiraten Männer keine Männer. Und Frauen heiraten keine Frauen", schreibt David Sperber, Forscher für zeitgenössische jüdische Kunst, in seinem eigens für die Ausstellung verfassten Artikel "The Art of Breaking Taboos".
Hinter jedem Werk der jüdischen LGBTQ-Künstler steht eine schwierige Geschichte des Kampfes gegen das konservative Establishment. Lange verweilen die Besucher in dem Raum mit den bewegenden Videodokumentationen von Männern aus traditionellen jüdischen Familien, die über die oft hart erkämpfte Akzeptanz ihrer Homosexualität sprechen. "Ich bete nur, dass du den Weg zu Gott nicht vergisst", sagt eine in einen schwarzen Schal gehüllte Mutter liebevoll zu ihrem Sohn, einem jungen bärtigen Mann mit Kippa. - Und wer immer du bist, niemand kann dir jemals sagen, dass dies nicht dein Zuhause ist". Dies ist ein Ausschnitt aus dem Film "The Holy Closet" des israelischen Regisseurs Moran Nakar.
Sex im Judentum - zwischen Verboten und Sexspielzeug
In einer Glasvitrine liegt der "Schulchan Aruch" - eine Zusammenfassung der Grundregeln, die jüdische Gläubige in ihrem täglichen Leben zu befolgen haben. Das Buch ist auf einer Seite aufgeschlagen, auf der es um erlaubte und verbotene sexuelle Praktiken geht, insbesondere um das Verbot der Selbstbefriedigung.
"Man soll sich vor körperlicher Erregung hüten, deshalb darf man weder auf dem Rücken noch auf dem Bauch mit dem Gesicht nach unten schlafen. Man sollte auf der Seite schlafen, um körperliche Erregung zu vermeiden", empfiehlt das Buch. Es ist auch nicht ratsam, zu zweit in einem Bett zu schlafen. Man sollte keine Tiere beobachten, weder Wild- noch Hausvögel, wenn sich Männchen und Weibchen paaren, und auch nicht ohne Sattel reiten, erweitert die Schrift die Verbotszone.
In einer separaten Vitrine ist ein kleines Objekt zu sehen, das viele Besucher zum Schmunzeln bringt: ein massiver Metallring, der über mehrere Fingerglieder gestülpt wird und so ein Abknicken der Finger verhindert. Dieses Gerät sollte von Männern nachts getragen werden, damit sie sich nicht versehentlich im Schlaf selbst befriedigen.
Doch die Ausstellung setzt auch einen Kontrapunkt: "Water Slyde" wurde 2014 von der orthodoxen Jüdin Maureen Pollack "für die sexuelle Gesundheit" von Frauen entwickelt. Das höchst unorthodoxe Gerät erfüllt eine Doppelfunktion: als weiblicher Stimulator und Vaginaldusche. Es wurde mit dem Segen eines Rabbiners entwickelt - als Mittel zur Förderung der sexuellen Intimität zwischen Ehepartnern.
Intime Einblick in das Judentum
Die jahrtausendealte Kultur des Judentums ist voller Verbote und Einschränkungen. Aber sie hat auch eine andere Tradition: den offenen Umgang mit sich selbst. "Und genau in dieser Tradition steht die Berliner Ausstellung", sagt Anna Narinsky im Gespräch mit der DW. Ohne Angst und falsches Pathos stellen die Macher die intimen Themen der jüdischen Kultur zur Diskussion.
"Mir hat sehr gut gefallen, dass sowohl Sex als auch Religion mit dem gleichen Respekt, aber auch mit dem gleichen Maß an Humor dargestellt werden", resümiert die Berliner Intellektuelle Narinsky. "Das ist der zentrale Gedanke, der mir persönlich sehr am Herzen liegt: Traditionen und Überzeugungen verlangen nicht, dass wir unsere eigene Identität verleugnen. Im Gegenteil: Sie legen uns nahe, uns unter keinen Umständen zu verraten - weder uns selbst und schon gar nicht unsere Nächsten."