Ein blutiger Tag in Kairo
14. August 2013Dutzende Mannschaftstransporter und Radpanzer haben die Zufahrtstraßen zum größten Protestcamp der Islamisten abgeriegelt. Die Offiziere verweisen auf die Gefahr und lassen niemanden durch. Journalisten werden durchsucht und abgewiesen. Mit regungsloser Miene sagt ein Soldat, die Demonstranten würden im Camp ihre Zelte anzünden und sich gegenseitig erschießen, um die Sicherheitskräfte in ein schlechtes Licht zu rücken. Die absurde Bemerkung wirkt zynisch, wenn man bedenkt, dass Militär und Polizei das Camp angegriffen haben.
Einige hundert Meter entfernt haben sich Tausende Islamisten an einem zentralen Verkehrsknotenpunkt der ägyptischen Hauptstadt unter einer auf Betonpfeilern gebauten Stadtautobahn versammelt. Einige halten Steine in den Händen, viele beten auf dem Boden kniend. Sie sind aufgeregt, die Wut ist in ihren Gesichtern zu erkennen. Eine Gruppe Demonstranten rennt verzweifelt eine der Autobahnauffahrten hinunter. Auf ihren Schultern tragen sie einen schwerverletzten Mann, dem in den Kopf geschossen wurde. Wenige Sekunden später ist der Mann tot.
Viele der umstehenden Männer und Frauen weinen in Trauer und Zorn. Sobi, der hinter der Gruppe mit dem Schwerverletzten lief, erklärt, was passiert ist: "Ich kam gerade von einem Protestmarsch vom Hauptbahnhof. Wir wollten uns dort mit einem anderen Marsch vereinen und auch den Demonstranten hier unter der Brücke. Die Polizei und bezahlte Kriminelle haben plötzlich angefangen, Tränengas zu schießen. Danach haben sie scharf geschossen."
Den Sicherheitskräften hoffnungslos unterlegen
Immer wieder ist das laute Donnern von abgefeuerten Tränengasgranaten zu hören. Die Geschosse fallen alle paar Minuten auf den Asphalt. Doch die Zahl der Demonstranten wächst stetig weiter. Sie haben sich auf drei über- und nebeneinander führende Autobahnen gedrängt. Mit Steinen schlagen sie gegen das Metall der grünen Geländer, um mit dem Lärm die Polizei einzuschüchtern. Doch mit Steinen als Waffen sind sie den Sicherheitskräften hoffnungslos unterlegen - Schusswaffen haben sie nicht.
Einige Jugendliche haben daher einen gepanzerten Geldtransporter gekapert. Sie werfen die leeren Plastik-Geldkassetten aus dem Wagen und fahren langsam durch die "Gott ist groß!" rufende Menschenmenge in Richtung Frontlinie. Mit dem Panzerwagen wollen sie den Demonstranten dort Deckung bieten.
Doch der Transporter schützt die Insassen nicht vor dem Tränengas: Plötzlich beschleunigt das Fahrzeug und springt ruckweise gegen das Metallgeländer: eine große Straßenlaterne kann der Wucht nicht standhalten, knickt um und baumelt von der obersten Brücke. Der vom Tränengas versehrte Fahrer kommt mit dem Leben davon: ein paar Zentimeter weiter und sein Fahrzeug wäre von der Brücke in die Tiefe gestürzt.
Am anderen Ende der Brücke sitzt still und fast regungslos der etwa 20-jährige Ibrahim. Aus einer Flasche kippt ein Freund Wasser über seine mit Blut verschmierten Hände. Auch sein graues T-Shirt ist vom Blut gefärbt: "Ich habe einen Mann mit einer Schussverletzung am Bein getragen. Sein Fuß war von der Kugel zerfetzt. Ich habe auch jemanden gesehen, dem in den Kopf und den Arm geschossen wurde."
Hilferuf über den Moschee-Lautsprecher
Kurz darauf sind in schneller Abfolge laute Gewehrschüsse zu hören. Zum ersten Mal rennen einige der sonst todesmutigen Demonstranten von der Polizei weg: Sie rennen buchstäblich um ihr Leben. Ab diesem Zeitpunkt steigt die Zahl der Opfer rasant an. Ein anderer gekaperter Geldtransporter wird inzwischen dazu benutzt, um Schwerverletzte von der Frontlinie zu bergen.
Doch für viele kommt jede Hilfe zu spät. Neben der Autobahnauffahrt schleppen einige Demonstranten auf einer Plastikfolie einen angeschossenen Mann aus dem Wagen und legen ihn auf den Asphalt. Herzmassagen und alle Versuche, seine Blutung zu stoppen, können sein Leben nicht retten. Zwei junge Frauen in schwarzer Vollverschleierung weinen verzweifelt und schreien: "Unser Gott, unser Gott!"
Selbst viele der Männer können ihre Tränen nicht mehr unterdrücken. Aus einigen Metern Entfernung beobachtet der etwa 50-jährige Ahmed das Geschehen und kann sich in seiner Wut nicht mehr zurückhalten: "Es ist so schlimm, was hier geschieht. Was hier passiert, ist ähnlich dem, was Bashar Al-Assad in Syrien anrichtet."
Viele Opfer werden in eine Moschee neben der Autobahnauffahrt gebracht. Über den Moschee-Lautsprecher ruft der Imam immer wieder nach Ärzten für die zahlreichen Verletzten und Autos für ihren Transport. Am Ende schreit er mit sich überschlagender Stimme: "Achtet Gott und beendet die Gewalt!" Am Eingang halten im Minutentakt Privatwagen und die umfunktionierten Geldtransporter und bringen neue Verletzte.