Ein halbes Jahr in einer anderen Welt
3. Dezember 2009Es ist schon eine ganze Menge, was sich Doreen Grüttner vorgenommen hat für das halbe Jahr, das sie in einer anderen Welt verbringt: die Sprache lernen, die Kultur besser verstehen, vielleicht auch besser indisch kochen und natürlich sich einarbeiten in den Themenbereich Umwelt, Landwirtschaft und Bewässerung. Nur eines will sie bestimmt nicht – als jemand auftreten, die alles besser weiß. „Als vergleichsweise stinkreicher Mitteleuropäer dahin kommen und sagen: Oh, du bist so arm, lieber Mensch, ich möchte dir helfen – ich empfinde das als unglaubliche Arroganz.“ Sie will dort Erfahrungen sammeln und Brücken bauen zwischen zwei Welten, von denen es scheint, als wären sie unglaublich weit entfernt.
Fotos helfen beim Brückenbauen
Damit der Brückenbau leichter fällt, hat Doreen Grüttner ein paar Stückchen Heimat eingepackt: Fotos von zu Hause: „Von meiner Familie, von meinem Dorf. Weil die Leute sehr interessiert sind: Hast du Geschwister? Was machen deine Eltern? Wie sehen Deine Großeltern aus? Wie lebst Du da? Wie sieht Dein Haus aus? Und solche Sachen. Und da ist es schön, wenn man das visuell darstellen kann. Und deshalb habe ich auf meinem Laptop viele Bilder.“
Zweimal war Doreen Grüttner für mehrere Monate in Indien. Zuletzt im vergangenen Jahr, da hatte sie gerade in Berlin ihr Ethnologie-Studium abgeschlossen. In einem abgelegenen Dorf im Himalaya forschte sie anschließend über traditionelle Landwirtschaft. Viele Eindrücke sind ihr schon von damals in Erinnerung geblieben. Vor allem aber das unterschiedliche Tempo des Lebens. „Ich habe das Gefühl, dass die Lebensvorgänge insgesamt viel langsamer ablaufen drüben als hier. Und das ist etwas, was mich im Arbeitsalltag manchmal sehr genervt hat. Und was ich jetzt aber schon manchmal vermisse. Wenn man eigentlich in einem Arbeitsprozess begriffen ist, sich Zeit nimmt für ein Gespräch mit jemandem, der gerade vorbeikommt.“
Was sich Doreen Grüttner von der Zeit in Indien verspricht
Indien und seine Menschen haben es ihr einfach angetan, vieles wollte sie noch besser kennenlernen, das war ein Grund, sich als Freiwillige für das Weltwärts-Programm des Bundes-Entwicklungsministeriums zu bewerben. Ein anderer Grund, dass sie sich klar werden will, welche Ausrichtung sie ihrem Leben geben will. „Wenn man 28 Jahre ist, Langzeitstudentin gewesen ist, endlich einen Abschluss hat, dann muss man sehr intensiv auch darüber nachdenken, wie verdiene ich endlich mal Geld, nachdem ich mich jahrelang irgendwo durchgejobbt habe.“ Sie wünscht sich, Möglichkeiten zu entdecken, wie und wo sie arbeiten will, will Themen für sich entdecken, an denen sie sich festbeißen möchte.
Aufgewachsen ist Doreen Grüttner in Thüringen, sie hat Abenteuercamps für Jugendliche betreut, sich zwischendurch ehrenamtlich um Obdachlose gekümmert und auch beim Deutsch-Indischen Filmclub Berlin mitgearbeitet. Nun ist Doreen Grüttner seit dem Sommer mitten in Indien, hat dort im September ihren 29. Geburtstag gefeiert.
Die Bauern sind Opfer des Klimawandels
Im sogenannten Baumwollgürtel rund um die Millionenstadt Nagpur versucht Doreen Grüttner Bauern zu erklären, wie sie die Bewässerung ihrer Felder verbessern können. Eine lebenswichtige Aufgabe, denn die Trockenheit in der Region nimmt zu, und der Grundwasserspiegel sinkt immer weiter ab. Die Folgen sind dramatisch, erklärt Jona Dohrmann. Er ist der Chef der Entwicklungsorganisation Deutsch-Indische Zusammenarbeit, für die Doreen Grüttner nach Nagpur gegangen ist. Er kennt die Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort und vor allem ihre wirtschaftliche Not: „Die Bauern finanzieren oft die Aussaat durch Darlehen. Wenn sie dann den Ertrag nicht erzielen, können sie die Darlehen nicht zurückzahlen und geraten in eine Verschuldensfalle. Das führt zu Selbstmorden der Bauern. Sie sehen dann keine andere Möglichkeit mehr als aus dem Leben zu scheiden.“ Dabei sei eigentlich genug Wasser da, wenn man es nur richtig nutzen würde. Die indische Partnerorganisation in Nagpur, Ecumenical Sangam, betreut ein Modellprojekt dafür. Regenwasser wird dort zum Beispiel in Becken aufgefangen, damit es langsam und kontrolliert versickern kann. So soll der Grundwasserspiegel wieder steigen.
Keine Zeit zum Alleinsein – und vor allem kein Ort!
Doreen Grüttner arbeitet dort insgesamt ein halbes Jahr mit. Heimweh sei kein Problem, versichert sie. Eher schon, dass es kaum Möglichkeiten gibt, mal alleine zu sein, um etwa auf einem Spaziergang den Kopf freizubekommen. „Indien ist kein Land, in dem man einsam sein kann, selbst, wenn man es sich wünschen würde. Selbst in schon relativ abgelegenen Dörfern, wo ich auch unterwegs gewesen bin, bleibt man nicht allein. Vielleicht kann man sich manchmal heimlich zurückziehen, ohne dass es jemand merkt, aber allein sein ist schwierig, das Land ist ja auch recht dicht bevölkert.“
So wird es Doreen Grüttner wohl nicht an Gelegenheiten mangeln, die Sprache des Gastlandes zu lernen: Ein paar Brocken kann sie schon: „Me Adschi Hu - das ist Hindi und heißt: Mir geht es gut.“
Autor: Mark Kleber
Redaktion: Birgit Görtz