Ein Leben für Nepal
23. Juni 2015Am Mittag bekam Gereon Wagener eine SMS. Ob er schon davon gehört hätte? In Nepal habe es ein schweres Erdbeben gegeben. Es war Samstag, der 25. April. Nein, er hatte noch nichts davon mitbekommen, fing aber sofort an, im Internet zu recherchieren. Dort fand er die Zahl, die ihm schnell klar machte, dass es schlimm war, sehr schlimm: 7,8 auf der Richterskala. Gereon Wagener hängte sich ans Telefon. Er wollte nur eins: Wissen, wie es seinen Freunden vor Ort geht, den Menschen, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitet.
Nepal ist aus seinem Leben nicht mehr wegzudenken. 1997 reiste der heute 50jährige zum ersten Mal in den Himalaya-Staat, seitdem haben ihn Land und Leute nicht mehr losgelassen. Begonnen hat alles mit einer einzigen Begegnung: Er lernt ein junges Mädchen kennen, damals 14 Jahre alt. "Mir wurde berichtet, dass sie Hepatits und Tuberkulose hat und HIV-positiv ist. Und dass sie fünf Jahre als Zwangsprostituierte in Indien hinter sich hatte." Das Schicksal dieses Mädchens erschüttert Gereon Wagener so nachhaltig, dass der studierte Betriebswirt beschließt, sein bisheriges Leben komplett umzuschmeißen. "Ich wollte unbedingt helfen. Und einfach nur Geld zu spenden reichte mir nicht."
Zwei Jahre später zieht er aus dem Rheinland nach Nepal, bleibt insgesamt sieben Jahre. Um sich finanziell über Wasser zu halten, arbeitet er für verschiedene deutsche Organisationen vor Ort. Im Hinterkopf aber hat er die Vision, selbst etwas auf die Beine zu stellen. 2002 gründet er dann die sogenannte BONO-Direkthilfe. Der eingetragene Verein, dessen Name auf das lateinische Wort "bonum" (das Gute) zurückgeht und der komplett ehrenamtlich betrieben wird, engagiert sich für Frauen und Kinder und kämpft vor allem gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Eigene Projekte betreibt die BONO-Direkthilfe nicht, arbeitet stattdessen vor Ort mit lokalen Partnerorganisationen zusammen.
Viel Glück im Unglück
Und Mitarbeiter eben dieser Partnerorganisationen versucht Gereon Wagener am Nachmittag des 25. April zu erreichen. "Zwei Stunden nach dem Beben waren die Internetverbindungen noch stabil, auch Skype funktionierte noch." Es gelingt ihm, durchzukommen. "Es herrschte natürlich erst einmal viel Verwirrung, niemand konnte sagen, wie der Stand der Dinge ist und wer alles betroffen ist. Dadurch, dass es an einem Samstag passierte, waren ja auch nicht alle Mitarbeiter da." Eins allerdings steht schnell fest: Das Zentrum der Partnerorganisation Maiti Nepal in Kathmandu ist intakt geblieben. Aufatmen bei Gereon Wagener. "Maiti Nepal ist die führende Organisation gegen Menschenhandel in Nepal, und an ihren Gebäuden gab es glücklicherweise keinerlei Schäden." Dass die seit 1993 tätige Organisation vom Beben verschont blieb, hängt vor allem mit den günstigeren Bodenverhältnissen in diesem Teil der Stadt zusammen, erklärt Wagener.
Matri Griha, die zweite Partnerorganisation der BONO-Direkthilfe, steht in einem anderen Teil von Kathmandu. An der integrativen Schule für behinderte Kinder und Kinder aus sozial schwachen Familien und dem dazugehörigem Kinderhaus und Therapiezentrum sind die Spuren der Naturkatastrophe deutlich zu sehen. "Die Wände des Gebäudes haben tiefe Risse, die nach dem starken Nachbeben nochmal größer geworden sind", berichtet Wagener. Aber das Wichtigste: Sowohl die Mitarbeiter der Partnerorganisationen als auch ihre Schützlinge sind am Leben.
Zwischen Alltag und Katastrophe
Trotzdem steht für ihn sofort fest, dass er nach Nepal reisen möchte, zu seinen Freunden, um Trost zu spenden und einfach da zu sein. Eigentlich soll es eine Woche nach dem Beben losgehen, dann aber raten ihm die Partner ab: Seuchengefahr, zu gefährlich. Es ist Fieber ausgebrochen. Gereon Wagener verschiebt die Reise und fliegt am 14. Mai, zwei Tage nach dem zweiten Beben - das auch eine Stärke von 7,1 erreicht. "Ich bin mit Turkish Airways über Istanbul gereist, die Maschine war komplett leer." Bei der Ankunft in Kathmandu scheint zunächst alles normal, erinnert er sich. "Auf dem Flughafen war es wie immer. Die Menschenmassen der ersten Tage waren verschwunden, und zerstörte Gebäude habe ich auf der Ring Road auch erst einmal nicht gesehen. Ich dachte: Oh, hier herrscht ja doch so etwas wie Normalität."
Doch wie nah Alltag und Katastrophe beieinander liegen, erlebt er schon wenig später in anderen Stadtteilen, wo Häuser komplett zerstört sind. Besonders schlimm aber sei es in einigen Dörfern außerhalb des Kathmandu-Tals gewesen, Dörfer, die zu 100 Prozent zerstört worden seien. Dort, im Umland der Hauptstadt besucht Wagener Familien, deren Kinder in den Einrichtungen der Partnerorganisationen betreut wurden. Von den Häusern seien nur noch Brocken übrig gewesen. "Die meisten sind ja aus Ziegeln. Das ist ein Ausmaß an Zerstörung gewesen, das ich mir überhaupt nicht ausmalen konnte. Obwohl ich vorher Bilder gesehen hatte. Dafür hat man keine Worte." Unvorstellbar sei es gewesen, fügt er noch hinzu.
Bewundernswerte Größe in der Not
Mit im Gepäck hat er Reis, Linsen, Öl oder Zucker. Für die Menschen dort ist es drei Wochen nach dem Beben die erste Hilfe von außen. Bei ihnen sei noch keine Hilfsorganisation gewesen, berichtet Wagener. Obwohl sie jeden Tag große Transportmaschinen am Himmel sehen konnten. "Sie haben sich sehr verlassen gefühlt, und da war einfach eine enorme Wertschätzung dafür, dass überhaupt jemand gekommen ist." Die Art und Weise, wie die Menschen mit ihrer Not umgehen, sei bewundernswert. "Man schaut ihnen ins Gesicht. Sie haben alles verloren und gucken trotzdem immer noch freundlich. Das hat mich zutiefst berührt."
Zwei Monate sind seit dem ersten Beben vergangen. Im von Zerstörung verschont gebliebenen Zentrum von Maiti Nepal geht die Arbeit längst normal weiter, und auch bei der Partnerorganisation Matri Griha ist wieder Alltag eingekehrt. So weit das eben geht, mit ein bisschen Improvisation. "Das Therapiezentrum der Schule ist ja glücklicherweise heil geblieben. Da findet jetzt der Unterricht statt. Und auch im Kinderhaus und unter Planen draußen auf dem Schulhof."
Gereon Wagener wird im November wieder nach Nepal fliegen. In das Land, das, wie er selbst sagt, "Spuren hinterlassen hat". Die junge Zwangsprostituierte, mit der vor fast 20 Jahren alles anfing, lebt noch immer. Sie wohnt heute in Spanien, weiß Wagener. Kontakt zu ihr hat er allerdings nicht. "Ich habe ihr auch nie gesagt, dass sie letztendlich der Mensch war, der durch sein Schicksal mein Leben verändert hat."