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Ein Neureicher als letzte Bastion der russischen Demokratie?

Alexander Warkentin 3. November 2003

Der Fall Chodorkowski wird zeigen, ob sich der russische Staat zurückentwickelt zum Privateigentum einer Clique von Putin-Funktionären. Das schreibt Alexander Warkentin in seinem Kommentar.

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Niemand mag die neureichen Russen mit ihren schlechten Manieren, ihren Prunkvillen, ihren Privatjets, ihrem zur Schau gestellten Reichtum. Und irgendwie klingt es paradox und lächerlich, ausgerechnet einen von ihnen als letzte Bastion der Demokratie in Russland zu bezeichnen.

Der russische Milliardär Michail Chodorkowski sitzt in Untersuchungshaft. Im Westen mag sich mancher fragen, ob der Ölmagnat nicht doch Steuern hinterzogen hat, ob die russische Staatsanwaltschaft nicht doch tatsächlich unabhängig ist. Das amerikanische Außenministerium fragt vorsichtig an, ob im Fall Chodorkowski auch wirklich alle staatsrechtlichen Normen gewahrt werden, und bekommt eine empörte Abfuhr. Aber in Russland selbst bezweifelt niemand, dass Chodorkowski aus politischen Gründen hinter Gitter musste. Die politischen Akteure in Moskau machen gar keinen Hehl daraus.

Verantwortung der Staatsdiener

Kein Zweifel, die neureichen Russen haben ihre Vermögen zum Teil mit illegalen Mitteln zusammengerafft. Aber sie konnten nur das an sich reißen, was Ihnen korrupte Staatsbeamte ermöglichten. Wenn jetzt die Staatsmacht meint, die Ergebnisse dieser wilden Privatisierungsorgie korrigieren und die Schuldigen bestrafen zu müssen, so sollte sie bei diesen Beamten anfangen. Unternehmer leisten keinen Treueschwur auf den Staat. Sie sind nur am Gewinn orientiert. Aber die Beamten sind Staatsdiener, sie tragen eine besondere Verantwortung.

Nun argumentieren viele russische Politiker wie folgt: Die Bodenschätze gehören ganz Russland, dem ganzen Volk. Warum sollen Einzelne sich daran bereichern? Sie sollten teilen lernen. Aber wenn diese Politiker tatsächlich ums Volk besorgt sind, warum bringen sie nicht im Parlament ein Gesetz zur Sonderbesteuerung der Ausbeute von Bodenschätzen ein? Dann dürfen sich die Inhaber von "Jukos", "Lukoil" und wie die Konzerne alle heißen, ausrechnen, ob sich ihre Unternehmen noch rechnen oder nicht.

Chodorkowskis Russland

Stattdessen - selektive Gerichtsbarkeit, eine versuchte Erpressung eines einzelnen Oligarchen, der Ratschlag, er solle doch nach Florida oder sonst wohin gehen. Dann Verhaftungen in seinem Umfeld, die illegale Vorladung eines Anwalts in die Staatsanwaltschaft, ein Besuch von Geheimdienstleuten in der Schule, wo die 12-jährige Tochter des Trotzkopfes lernt. Und dann die nach Hollywoodart inszenierte Verhaftung von Chodorkowski selbst, die Beschlagnahmung von Jukos-Aktien. Warum musste der Geheimdienst FSB bemüht werden, um den Ölmagnaten zu verhaften? Warum musste ein Sonderflieger ins sibirische Nowosibirsk geschickt werden? Eine Fluchtgefahr bestand nicht. Die Hauptschuld Chodorkowskis besteht gerade darin, dass er meint, Russland sei auch sein Land.

Nein, wenn die Staatsapparatschiks jetzt sagen, der Oligarch müsse "teilen lernen", meinen sie nicht die Rentnerin in der Provinz. Sie meinen sich selbst. Die von Putin proklamierte "Vertikale der Macht", also die Zentralisierung der Staatsverwaltung mit dem Präsidenten im Zentrum, steht. Gemäß der alten Devise "Kader entscheiden alles" haben die Kader aus den Geheimdiensten alle Schlüsselpositionen im Staatsapparat besetzt. Nun ist es nicht die KPdSU, sonder das ehemalige KGB, das die Macht übernommen hat. Die Provinzfürsten wurden diszipliniert, unabhängige Medien geschlossen, das Parlament gezähmt. Das russische Modell der "gelenkten Demokratie" erlaubt es, Wahlen noch vor dem Urnengang zu manipulieren. Unliebsame Kandidaten werden vorsorglich aus dem Feld geräumt.

Russland der Apparatschiks

Der Milliardär Chodorkowski irrt, wenn er meint, Russland sei auch sein Land. Die Apparatschiks haben das Land längst übernommen. Genau das demonstrieren sie mit der Verhaftung des unabhängigsten unter den russischen Neureichen. Die Apparatschiks sind gegen transparente Geschäfte und eine solide Buchführung. Denn da könnte man schwarz auf weiß lesen, wie viel Schmiergelder welcher Staatsdiener erhalten hat.

Nun versucht Chodorkowski dagegenzuhalten. Glaubt man der britischen "Sunday Times", so werden seine Aktien jetzt vom englischen Bankier Jacob Rothschild verwaltet. An einen Rothschild kommt auch die russische Staatsanwaltschaft nicht heran. Chodorkowski hofft auf eine Internationalisierung des Konflikts. Seine Anwälte sind bereit, auch vor internationale Gerichte zu gehen.

Paradox

So paradox es auch klingt, der Milliardär Chodorkowski, der sehenden Auges die Untersuchungshaft der Emigration vorzog, erscheint heute als letzte Bastion der liberalen Idee und der Demokratie in Russland. Wenn der Staatsapparat ihn klein kriegt, haben die Bürokraten das ganze Land privatisiert. Ohne Auktionen und Lizenzen.