Guter Überblick
7. Dezember 2012Am Rande einer Veranstaltung, es gab dünne Suppe und belegte Brötchen, stand plötzlich ein Mann neben mir. "Sie machen doch auch so was mit Online", sagte er. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er seine Frage. Wissen wollte er von mir, wo man mal einen richtig guten Überblick über die Sache mit dem Internet bekommen könne. Im Internet selbst sei ja nun alles so durcheinander und viel Widersprüchliches stehe darin.
Bücher über das Internet
Ach, wenn ich doch nur nicht solche Kopfschmerzen von der sauerstoffarmen Luft im Raum gehabt hätte. Sofort hätte ich die philosophische Tiefe und Tragweite der Frage erkannt. Einen Überblick bekommen. Natürlich. Wer möchte das nicht?
Am Anfang des Lebens beispielsweise wäre das toll. Ein kurzer Vortrag über die zentralen Ereignisse der nächsten Jahrzehnte. Du wirst arbeiten, fernsehen, essen, vielleicht heiraten und irgendwann sterben. Aber davon wollte der Mann gar nichts hören. Ihm ging es um das irgendwie nicht greifbare Internet. Und mir fiel um alles in der Welt nichts, aber auch gar nichts, dazu ein. Dabei habe ich sehr viele Bücher über das Internet in einem schiefen billigen Regal im Arbeitszimmer. Dort lagern übrigens auch zahllose weiterer so genannter Überblickswerke. Kunstgeschichte, Filmkanon, Ballett oder diverse Programmiersprachen - gut, dass die Bücher da liegen. Man weiß ja nie. Gelesen habe ich sie selbstverständlich nicht.
Monströses Referenzsystem
Das ist vielleicht unpraktisch. Denn natürlich wäre es ziemlich lässig, beim Museumsbesuch leise alle Kunstgeschichtsepochen zu deklamieren. Oder beim Mittagessen die Bestandteile einzelner Ballettpositionen zu sezieren. Vielleicht wäre das aber auch selten doof. Denn wenn sich das Wissen nur aus der reinen Lektüre eines Überblickswerkes speist, ist es meistens nur punktuell, nie selbst erfahren und letztlich wenig brauchbar.
Trotzdem komisch, dass ausgerechnet das Internet so oft den starken Wunsch nach Erklärung, Einblick und Einordnung hervorruft. Es ist ja nicht so, dass man außerhalb des Internets ständig alle Dinge verstehen würde.
Im Radio zum Beispiel läuft Klassik. Klassik! Ein monströses Referenzsystem, eine solche Menge an Komponisten, Sinfonien, Werken, Instrumenten, Epochen - mich überfordert das vollkommen. Wo soll man da anfangen? Wo soll man da weitermachen? Was da ist gut? Und warum? Und wieso stört es kaum jemanden, dass er oder sie sich mit klassischer Musik nicht auskennt?
Hinter dem Datenhighway
Zurück ins Internet. Da gibt es seit einiger Zeit beim modernen Bloggingdienst Tumblr ein kleines Team, das Inhalte von Usern kuratiert und aufbereitet auf einer eigenen Seite bereitstellt. Man verstehe sich als eine Art Nachrichtenunternehmen. Und die Nutzer verstehe man als eine Art Bewohner in einer Stadt mit 80 Millionen Einwohnern, ließen die ehemaligen Journalisten, die jetzt für Tumblr arbeiten, verlauten.
Auch wenn das Bild ein bisschen schief ist, gefällt es mir sehr gut. Wenn mich das nächste Mal jemand fragt, was es mit diesem Internet auf sich hat, werde ich ihn oder sie mit in diese Metropole nehmen. Hinter dem Datenhighway links raus werden wir vor ungelesenen Blogs stehenbleiben und uns im Linkgewitter verlieren. Am nächsten Tag gehen wir dann in ein klassisches Konzert. Als Gegenleistung. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Mit Ein- und Über- und Ausblick.
Marcus Bösch war irgendwann 1996 zum ersten Mal im Internet. Der Computerraum im Rechenzentrum der Universität zu Köln war stickig und fensterlos. Das Internet dagegen war grenzenlos und angenehm kühl. Das hat ihm gut gefallen.
Und deswegen ist er einfach da geblieben. Erst mit einem rumpelnden PC, dann mit einem zentnerschweren Laptop und schließlich mit geschmeidigen Gerätschaften aus aalglattem Alu. Drei Jahre lang hat er für die Deutsche Welle wöchentlich im Radio die Blogschau moderiert. Seine Netzkolumne gibt es hier jede Woche neu.