"Ein Spiel mit Aussicht"
12. Mai 2014Das Auge muss ein wenig suchen, bis es ein bekanntes Gesicht erkennt. Da ganz rechts steht Julian Draxler mit einem breiten Lächeln im Gesicht, während seine Fußsohle lässig über den Ball streichelt. Mit seinen gerade einmal 20 Jahren und zehn Länderspielen gilt er hier bereits als Routinier. Denn um ihn herum stehen Spieler, an deren Namen man sich noch gewöhnen muss: Jung, Mustafi, Rüdiger, Ginter, Kramer, Rudy, Arnold, Meyer, Volland - fast eine komplette Elf ohne jegliche Länderspielerfahrung.
Ist das, was da auf dem satten Grün des Hamburger Millerntor Stadions - Spielstätte des Kultvereins St. Pauli - trainiert, wirklich die deutsche A-Nationalmannschaft? Ja sie ist es. Naja, zumindest formell. Denn natürlich ist das nicht die Elf, die Joachim Löw am 16. Juni ins erste WM-Gruppenspiel gegen Portugal schicken wird. Aber es ist das Personal, mit dem der Bundestrainer einen wichtigen Test kurz einen Monat vor der WM in Brasilien bestehen möchte: Das Freundschaftsspiel gegen Polen (13.05.2014, ab 20:30 im DW-Livestream) ist für Löw eine wichtige Standortbestimmung - und kann dies doch eigentlich gar nicht sein.
Ohne 20
Denn 20 der 30 Spieler, die der DFB-Coach im erweiterten WM-Kader nominierte, sind gar nicht nach Hamburg angereist. Die Gründe dafür sind vielfältig: Bayern- und BVB-Spieler haben noch das Pokalfinale am kommenden Samstag (17.05.2014, ab 19:45 im DW-Livestream) vor der Brust, Sami Khedira reist noch mit Real Madrid zum Champions-League-Finale nach Lissabon und andere Spieler werden nach Blessuren geschont. Kurz vor der WM erscheint die Nationalelf für viele Protagonisten nicht so wichtig zu sein - ein Alarmsignal? Nicht für den Bundestrainer. Er wünsche sich "etwas weniger Aufregung" in der Vorberichterstattung auf die Polen-Partie. Zwar würden in der Tat viele bekannte Namen fehlen, "aber deshalb muss man nicht unbedingt den nationalen Fußball-Notstand ausrufen." Die Abteilung "Nachwuchs und Perspektive" soll es also gegen Polen richten und sich zugleich als Alternative aufdrängen.
Einer der jungen Wilden darf ernsthaft von Brasilien träumen - ohne bisher auch nur ein einziges Mal in der A-Nationalmannschaft aufgelaufen zu sein: Kevin Volland, Stürmer der TSG 1899 Hoffenheim. Einige Stunden vor dem Training sitzt der 21-Jährige zum ersten Mal auf einer Pressekonferenz der Nationalmannschaft. Sein Lächeln ist etwas zaghaft, seine Gesten sparsam, seine Stimme zunächst etwas schüchtern. "Es fiel mir sehr leicht, hierher zu kommen", sagt er leise auf die Frage, ob er so etwas wie Druck verspüre und betont: "Ich gehe mit Freude ins Spiel. Dass ich dabei sein darf, ist schon eine Ehre. Ich habe nichts zu verlieren."
Volland darf sich Hoffnungen machen
Da hat er wohl recht. Denn obwohl auf der Kaderliste bei der Anzahl der Länderspiele hinter seinem Namen ein Strich statt einer Zahl steht, dürfte Volland in Brasilien dabei sein. Neben dem gerade erst wieder genesenen Miroslav Klose ist Volland der einzige Stürmer im 30-köpfigen Kader von Joachim Löw, der ihn auch deshalb wohl kaum von seiner Liste streichen wird. Zudem hat Volland eine starke Saison hinter sich. In einer nur mäßigen Hoffenheimer Elf ragte er heraus, schoss elf Tore und gab neun Vorlagen in der Bundesliga.
Champions-League- oder Europa-League-Erfahrung hat Volland jedoch keine. Nicht einmal bei den auf der Pressekonferenz anwesenden Sportjournalisten ist klar, was für ein Spielertyp er eigentlich ist. Echter Stoßstürmer? Falsche Neun? Oder gar nur ein verkappter offensiver Mittelfeldspieler? "Ich habe in der Jugend bei 1860 München hauptsächlich Stürmer gespielt, auch Stoßstürmer", antwortet Volland etwas trotzig, "das tue ich jetzt auch in Hoffenheim. Das liegt mir, ich bin ein robuster Spieler", macht Volland klar, den sein Trainer Markus Gisdol kürzlich zumindest in diesem Sommer für unverkäuflich erklärte. Angesichts des mit Stars gefüllten offensiven Mittelfelds im DFB-Team scheinen Vollands Chancen, als Stürmer auflaufen zu dürfen, auch deutlich realistischer.
"Gegen Polen beginnt die WM für uns"
An manchen seiner Aussagen merkt man jedoch, dass die Nationalelf für ihn - wie auch für viele andere im Team - noch ein Abenteuer ist: "Ich habe beim Anruf von Hansi Flick über das ganze Gesicht gestrahlt und es gleich meiner Familie erzählt. Wir haben uns alle riesig gefreut."
Jener Hansi Flick beeilte sich dann auch auf der Pressekonferenz, das Spiel gegen Polen mit Bedeutung aufzuladen - trotz aller Absagen. Mit der Partie gegen die östlichen Nachbarn "beginnt die WM für uns", sagte der Co-Trainer der Nationalelf. "Wir haben hier einen Kader, der in dieser Konstellation noch nie zusammengespielt hat. Aber davor ist uns nicht Bange, weil wir wissen, dass die Motivation der Spieler sehr hoch ist. Sie haben nichts zu verlieren, sie werden sich zerreißen auf dem Platz", ist sich Flick sicher. Schließlich geht es zumindest für zehn Spieler um eine Chance auf die WM. Für alle anderen geht es um einen Platz im Team nach dem Turnier in Brasilien. Oder wie es der Bundestrainer etwas lyrisch formulierte: Die Partie gegen Polen ist "ein Spiel mit Aussicht".