Eine koreanische Identität
31. August 2015"Wer Koreanisch sprach, wurde bestraft", erzählt Kim Soon-Sil. Koreanisch war verboten. So war die Regel, nicht nur an ihrer Volksschule in Seoul, sondern überall auf der Halbinsel. Stattdessen mussten die Schüler die offizielle Unterrichtssprache japanisch sprechen. Denn Korea war, als die heute 83-jährige Kim Soon-Sil ein Kind war, fest in japanischer Hand und schon seit 1910 eine Kolonie Japans.
Für die Menschen in Korea bedeutete das: ein Alltag in Unterdrückung - im eigenen Land. "Ich kannte es nicht anders", erzählt Kim Soon-Sil. "Niemand musste mir erklären, dass meine Heimat nicht frei war. Das habe ich schon selbst gemerkt." Nur zu Hause mit Eltern und Geschwistern konnte sie als Koreanerin leben, ihre eigene Sprache sprechen. Jeden Morgen versammelte sich die evangelische Familie zu einer Art Gottesdienst, um den Tag zu beginnen. Dabei lasen Mutter und Vater den Kindern nicht nur aus der Bibel vor, sondern erzählten ihnen auch von Japan und Korea und der Geschichte beider Länder.
Aus Kim wird Kaneda
Der Familie ging es vergleichsweise gut. Der Vater hatte Wirtschaftswissenschaften studiert und sich als Banker und später als Unternehmer einen Namen gemacht. Seine Firma exportierte Dosenfisch. Er konnte während der Kolonialzeit seinen Job behalten, musste nicht wie viele andere als Zwangsarbeiter in Kohleminen schuften oder wie die koreanischen Bauern sämtliche landwirtschaftlichen Erzeugnisse an die Besatzer abtreten. Eins aber galt auch für die Kims: Ihr koreanischer Name musste durch einen japanischen ersetzt werden. "Wir hießen dann Kaneda mit Nachnamen", sagt Kim Soon-Sil. Ihren Vornamen durfte sie behalten, allerdings wurde er japanisch ausgesprochen.
An den 15. August 1945, den Tag, als Tenno Hirohito, der damalige Kaiser, in einer Radioansprache die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg offiziell besiegelte, kann sich Kim Soon-Sil noch genau erinnern. Sie war 13 Jahre alt. "Ich war mit einer Cousine und ein paar anderen zusammen. Da hörten wir es. Ich dachte nur: Gott sei Dank. Ich war so froh." Gleichzeitig aber waren da auch Angst und Unsicherheit. "Wir wussten nicht, ob wir dem trauen konnten. Und ob wir uns freuen durften. War das überhaupt erlaubt?"
Suche nach Identität
Ganz grundsätzliche Fragen seien da auf einmal gewesen - nach insgesamt 35 Jahren als Kolonie. "Wenn Japan den Krieg verloren hat, was wird dann aus uns? Wir kannten ja nichts anderes als das Leben als Menschen zweiter Klasse unter den Japanern. Und jetzt wussten wir auf einmal nicht mehr, wozu wir gehörten." Viele Kinder und Jugendliche hätten gar keine eigene koreanische Identität gehabt, konnten beispielsweise auch nicht Koreanisch schreiben. Weil sie es in der Schule ja nicht gelernt hatten.
Sie selbst habe damals aber keine innere Zerrissenheit empfunden, sagt Kim Soon-Sil heute. "Ich habe mich immer als Koreanerin gefühlt. Das hing aber auch mit meinem Zuhause zusammen. Wir waren eine starke, stabile Familie. Uns ging es besser als vielen anderen. Die Armut war überall spürbar und ein großes Problem. Kaum jemand konnte sich noch Reis und Getreide leisten."
Alltag in einem kriegsgebeutelten Land
Nach dem Zweiten Weltkrieg beendete Kim Soon-Sil die Höhere Mädchenschule und fing an, in Seoul Theologie zu studieren. Während sich um sie herum das Weltgeschehen weiter drehte - und einen weiteren Schicksalsschlag mit sich brachte: Denn auf die Befreiung Koreas von Japan folgte die Teilung der Halbinsel in Nord und Süd durch die USA und und die Sowjetunion. Mitten in das Studium platze dann die nächste koreanische Tragödie. 1950 brach der Korea-Krieg aus. Drei Jahre lang lieferten sich Nord- und Südkorea gemeinsam mit den jeweiligen Alliierten erbitterte Kämpfe um die Halbinsel. Am Ende - im Sommer 1953 - wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet, kein Friedensabkommen. Die bis heute andauernde Teilung der Halbinsel war zementiert, Korea lag nach zwei Kriegen am Boden.
Trotzdem konnte sie ihr Studium abschließen, unterrichtete danach an einer Mittelschule Koreanisch. Mit Anfang zwanzig heiratete sie, bekam zwei Kinder. Nach ein paar Jahren als Hausfrau und Mutter wollte sie wieder zurück ins Berufsleben und konnte in ihrem neuen Job die in der Schule erworbenen Japanisch-Kenntnisse nutzen: Sie arbeitete erst als Japanisch-Lehrerin und später als Dolmetscherin und Reiseführerin für ein Reisebüro. 1973 verließ sie mit ihren Kindern Südkorea, um bei ihrem Ehemann sein zu können. Er wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehreren Jahren in Deutschland und hatte durch seinen Job als evangelischer Theologe die Familie in der Heimat finanziell unterstützt.
Schreiben über Korea
Seit über vierzig Jahre lebt auch Kim Soon-Sil jetzt in Frankfurt am Main. Wieder arbeitete sie als Übersetzerin, übersetzte beispielsweise einen japanischen Roman und eine Dokumentation ins Koreanische. Daneben schreibt sie auch eigene Romane und Geschichten, gewann mit einer ihrer Kurzgeschichten sogar den Literaturpreis des internationalen PEN-Clubs in Korea.
In ihren Geschichten geht es thematisch immer um die Heimat. Die alte und auch die neue. Kim Soon-Sil schreibt beispielsweise über im Korea-Krieg auseinandergerissene Familien. Oder über koreanische Gastarbeiter in Deutschland. Die bittere Kriegsvergangenheit ihres Landes und die Folgen lassen sie bis heute nicht los.
Wut und Enttäuschung
Ganz genau verfolgt sie deshalb, wie Japan mit der eigenen Kriegsvergangenheit umgeht, auch im Vergleich mit Deutschland. Der Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 beispielsweise hat sie tief beeindruckt. Ganz anders als die Rede, die der japanische Ministerpräsident Shinzo Abe Mitte August anlässlich des 70. Jahrestages der Kapitulation gehalten hat. Darin hatte er zwar gesagt, Japan habe "immer wieder tiefe Reue und innige Entschuldigung" für seine Aktionen im Krieg geäußert. Und diese "von früheren Regierungen geäußerten Positionen sind auch in Zukunft unerschütterlich". Darüber hinaus übermittelte er allen ehemaligen Kriegsgegnern seine "tiefe Trauer und ewiges Mitgefühl". Eine ausdrückliche Entschuldigung aber vermied er. Stattdessen betonte er, kommende Generationen dürften "nicht zum Entschuldigen verpflichtet sein".
Bei China sowie Nord- und Südkorea löste die Rede harte Kritik aus. Und auch Kim Soon-Sil ist enttäuscht."So etwas macht mich wütend. Ich würde mir eine aufrichtige Entschuldigung wünschen. So reicht es nicht. Die Japaner denken nur an ihre eigene Opferrolle durch Nagasaki und Hiroshima. Wie sie selbst sich gegenüber anderen Völkern verhalten haben, darum geht es weniger. Sie haben eine Schreckensherrschaft nach dem Vorbild von Nazi-Deutschland in sämtlichen eroberten Gebieten errichtet, haben in Korea, China und Südostasien grausam gemordet."
Abes Rede hätte "viel zu wünschen übrig gelassen", meinte auch die südkoreanische Präsidentin Park Geun Hye in einer öffentlichen Ansprache zur koreanischen Befreiung vor 70 Jahren. Nur mit "ernsthaften Taten" könne Japan das Vertrauen seiner Nachbarländer zurückgewinnen. Ein besonders drängender Punkt ist dabei auch das dunkle Kapitel Zwangsprostitution. Wie viele asiatische Frauen während des Krieges in japanischen Soldatenbordellen zum Sex gezwungen wurden, ist nicht genau bekannt. Manche Historiker schätzen, dass es bis zu 200.000 gewesen sein könnten. Bis heute warten die noch lebenden Opfer von Seiten Japans auf eine Entschuldigung und Entschädigungszahlungen.
Privater Umgang möglich
Mindestens eine dieser verharmlosend "Comfort Women" genannten Mädchen und Frauen kannte auch Kim Soon-Sil persönlich. In der Volksschule ging sie mit ihr in eine Klasse. Später verschwand das Mädchen, es wurde verschleppt und zur Zwangsprostitution gezwungen, vermutet sie. "Genaues über ihr Schicksal weiß ich zwar nicht. Darüber sprach man ja nicht. Aber es gab viele Gerüchte. Jahre später habe ich sie mal auf der Straße getroffen. Aber ich habe nie mit ihr geredet."
Immer wieder hatte Kim Soon-Sil , seit sie in Deutschland lebt, auch mit Japanern zu tun. Das sei kein Problem, auf persönlicher Ebene funktioniere der Kontakt. Ganz anders ist es mit der japanischen Regierung. Da sitzt die Wut tief. "Mein Alltag leidet zwar nicht darunter, aber das, was damals passiert ist, lässt mich einfach nicht frei." Solange es von dieser Seite kein eindeutiges Schuldbekenntnis gibt, sagt sie, können die alten Wunden auch nach Jahrzehnten nicht heilen.