Werteverlust
2. Juli 2009Die erste Kabinettssitzung der Regierung Berlusconi im Mai 2008 in Neapel zeigte, wo es künftig langgehen würde: Der frisch gewählte Regierungschef präsentierte sich als zupackender Problemlöser, indem er den unsortierten Müll von den Straßen räumen und zur Verbrennung ins Ausland schaffen ließ - Kosten spielten keine Rolle. In Neapel kam Berlusconis Strategie der medienwirksamen Sofortmaßnahmen erstmals zur Anwendung.
Viel Lärm um wenig
"Er macht aus jedem Notfall einen Werbespot", sagt Roberto Biorcio, Professor für Soziologie an der Mailänder Universität Milano-Bicocca. "Die Technik besteht darin, persönlich am Ort des Geschehens aufzutauchen, die Minister dort zu versammeln und als derjenige zu erscheinen, der das Problem löst - auch wenn das gar nicht der Fall ist", kritisiert er.
Das jüngste Beispiel sei das Erdbeben in den Abruzzen, aus dem Berlusconi ein Medienspektakel zu seinen Gunsten gemacht habe. Und jetzt werde er die Abruzzen auch noch als Hintergrundkulisse für den G 8-Gipfel nutzen. "Das wichtigste ist nicht die reale Lösung des Problems, sondern der Eindruck, dass sich die politischen Institutionen und er persönlich um das Problem kümmern", sagt Biorcio.
Die Regierung hangelt sich von Notfall zu Notfall und lässt die Finger von strukturellen Problemen wie dem veralteten Rentensystem, der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und dem verkrusteten Arbeitsmarkt. Langfristige Perspektiven interessieren weniger als aktuelle Meinungsumfragen. Und die attestieren der Regierung einen breiten Konsens in der Bevölkerung - trotz Berlusconis unrühmlicher Geschichten um Abende mit Callgirls.
"Berlusconi-Kultur": Egoismus als Leitprinzip
Die Vorwürfe, sich in seinen Residenzen auf Sardinien und in Rom mit hübschen, jungen Mädchen zu umgeben, bestreitet Berlusconi nicht. Falsch sei allerdings die Aussage eines Callgirls, er habe für den Damenbesuch bezahlt. Hätte er gewusst, auf welche Weise sich die Signora, die der Staatsanwaltschaft Fotos und mitgeschnittene Gespräche vorgelegt hat, ihr Geld verdient, hätte er einen großen Bogen um sie gemacht, beteuert Berlusconi. Doch die Rolle als "Unschuld vom Lande" nimmt ihm in Italien niemand ab.
Seinem Ansehen schadet das dennoch nicht besonders. "Wenn sein Arbeitstag als Ministerpräsident zu Ende ist, kann er doch machen was er will", meint ein Mailänder. Er drückt aus, was viele Italiener denken. Das gesellschaftlichen Klima Italiens ist von der "Berlusconi-Kultur" geprägt, das heißt: Jeder ist sich selbst der nächste. Die Folgen sind überall zu beobachten.
Häufiges Ziel von Angriffen sind Roma und Sinti, die zu tausenden in schmutzigen Barackenstädten am Rande der Großstädte leben. Die Staatsanwältin Franca Imbergamo ist darüber entsetzt: "Wenn es in diesem Stil weitergeht, werden die Leute auf der Straße bald noch radikalere Maßnahmen verlangen. Das macht mir wirklich Angst. Unser Land beginnt sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Probleme gelöst werden, indem die angeblichen Verursacher, diejenigen, die stören, ausgeschlossen werden - weggeschlossen, abgeschoben", sagt die Juristin.
Einfluss der Kirche schwindet
Italiens Gesellschaft gerät in Schieflage, alt hergebrachte Werte erodieren. Und auch die Kirche, die in Italien nach wie vor gesellschaftlichen Einfluss hat, scheint diese Entwicklung nicht aufhalten zu können. Der Franziskanerpater Don Vittorio Rigoni leitet im Zentrum von Mailand eine Anlaufstelle für Bedürftige und gibt täglich mehr als 5000 kostenlose Mittagessen aus.
Immer häufiger wird ihm vorgeworfen, auf diese Weise den Zuzug von mittellosen Immigranten zu fördern. "Die Politik muss die Gefühle der Menschen ernst nehmen und sie muss vermitteln. Das derzeit vorherrschende Gefühl ist die Angst: Angst vor der Krise, Angst um den Arbeitsplatz - das führt zu Aggressionen und zu Konflikten, die die Politik schlichten muss", meint der Pater.
Konflikte hat Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi selbst mehr als genug. Seine Frau lässt sich von ihm scheiden, seine beiden jüngeren Kinder sieht er nur noch selten. Und auch die Staatsanwaltschaft könnte wieder einmal Anklage gegen ihn erheben: diesmal wegen Unterstützung von Prostitution.
Autorin: Kirstin Hausen
Redaktion: Sandra Voglreiter/Julia Kuckelkorn