Verfassungsreferendum am Nil
21. Dezember 2012Umm Mohamed hockt auf der Bordsteinkante. Der Saum ihres bodenlangen Kleides ist schon ganz schwarz vom Straßenschmutz. Imbaba ist eines der Armenviertel Kairos. Überall liegt Müll. Die Kanalisation ist mangelhaft. Keine hundert Meter weiter rinnt stinkendes Abwasser aus einem der heruntergekommenen Häuser direkt auf die Straße. Umm Mohamed hat ihre Zeitungen vorsorglich akkurat geordnet auf einem Pappkarton ausgelegt. Seit ein paar Tagen verkauft sie - wie alle Zeitungshändler im Land - zusätzlich kleine Bücher, in denen der Entwurf der neuen Verfassung abgedruckt ist. "Die Leute kaufen das, um zu verstehen, worüber diskutiert wird", erklärt Umm Mohamed. "Sie wissen dann: Alles ist gut und richtig."
Die Verkäuferin hat den Verfassungsentwurf allerdings selbst nicht gelesen. Sie gehört zu den etwa 40 Prozent Analphabeten in Ägypten. Auf den Abstimmungszetteln beim Volksentscheid gibt es für sie eigens Symbole und Farben, die beim Ausfüllen helfen sollen. Umm Mohamed weiß schon, dass sie das "Ja" ankreuzt. "Damit es dem Land endlich besser geht", begründet sie ihre Entscheidung. Mohammed Mursi sei ein guter Mann, der wisse, was der Islam bedeute. Seine Gegner streuten nur Gerüchte und würden das "Durcheinander" provozieren. Mursi meine es nur gut mit dem Volk, ist die einfache Frau überzeugt.
Armut und Analphabetismus
Der fromme Präsident ist beliebt in Imbaba, seine Kritiker sind es nicht. Das Elendsviertel ist eine Hochburg der ägyptischen Islamisten. Da, wo die Menschen arm und ungebildet, aber voller Gottesfurcht sind, ist es für Mursi und die Muslimbrüder einfach, die Leute vom Verfassungsentwurf nach den Prinzipien der Scharia zu überzeugen. Es sei Gottes Gesetz - so reduzieren auch die radikalen Salafisten jede Diskussion auf die Frage "glauben oder nicht glauben". Hinzu kommt das Argument, dass die Verfassungsgegner mit ihrem Protest die schwere wirtschaftliche Krise im Land nur unnötig verlängern würden.
"Wir wollen keine Unruhen mehr, wir wollen leben", erklärt ein Mann, der über zu knappe Löhne, geringe Renten und teure Lebensmittel klagt. Er will für den Verfassungsentwurf der Islamisten stimmen, weil er glaubt, dass es danach wieder wirtschaftlich aufwärts gehe. Ein Müllmann, der gerade vorbeikommt, denkt genauso: "Ich will, dass die neue Verfassung kommt. Es reicht mit dem ganzen Gerede und dem Krieg gegeneinander. Es muss jetzt Ordnung im Land geben." Auch er klagt über seinen geringen Lohn, nur 300 Pfund im Monat, umgerechnet weniger als 40 Euro. Er habe Probleme, seine Familie zu ernähren, so der Müllmann. Und die geplante Hochzeit seiner Tochter könne er sich überhaupt nicht leisten.
Ausländische Medien als "Teil der Verschwörung"
Man muss lange suchen, bis sich in Imbaba jemand findet, der gegen den Verfassungsentwurf der Islamisten ist - etwa ein Arzt. Er weiß, dass er in der Minderheit ist und begründet diesen Umstand mit der großen Armut im Viertel. Die Islamisten würden die Leute bestechen: "Wenn man denen Schokolade schenkt, ein Kilo Zucker, ein Kilo Butter, klar, dann sagen die 'Ja'", so der Mann. Außerdem würde argumentiert, dass es im Sinne des Islam sei, für die Verfassung zu stimmen. "Die sollen den Leuten nicht erzählen, dass die, die 'Ja' sagen, in den Himmel kommen", ärgert sich der Arzt, als er mit einer streng islamisch gekleideten Frau mitten auf der Straße in ein Streitgespräch gerät. Sie sagt: "Damit es in Ägypten vorangeht, kommt die Scharia." Doch der Mann fragt, was der wirtschaftliche Fortschritt mit der Scharia zu tun habe. Schließlich seien die Ägypter auch bisher keine "Kaffer", also Ungläubige gewesen.
Der lautstarke Streit mitten auf der Straße erregt Aufsehen. Eine bis dato völlig unbeteiligte Frau droht damit, die Polizei zu holen. Sie will Mikrofon und Aufnahmegerät beschlagnahmen. Als Bürgerin Ägyptens sei das ihre Pflicht, erklärt sie. Es scheint nachzuwirken, dass die Islamisten immer wieder behaupten, dass auch die ausländischen Medien Teil einer Verschwörung gegen Präsident Mursi seien. Die Stimmung in der kleinen Straße in Imbaba wird feindselig. Junge, bärtige Männer tauchen auf. Sie verbieten sogar einem Passanten den Mund - sie selbst wollen kein Interview geben.