Einmal Türkei hin und zurück
20. Mai 2016Die Innenminister der EU mussten sich bei ihrem Sondertreffen in Brüssel wieder einmal eine Standpauke des zuständigen EU-Kommissars für Migration, Dimitris Avramopoulos, anhören. "Wir können nicht zufrieden sein. Und meine Enttäuschung will ich nicht verbergen", sagte Avramopoulos mit Blick auf die Leistungen der Mitgliedsstaaten bei der Umsiedlung und Umverteilung von Flüchtlingen aus der Türkei, Griechenland und Italien.
Im März hatten sich die EU-Staaten das Ziel gesetzt, bis zum Mai 20.000 Flüchtlinge und Asylsuchende aus Griechenland und Italien auf andere EU-Staaten zu verteilen. Tatsächlich umverteilt wurden nur 355 Menschen. "Umverteilung ist Solidarität. Und Solidarität kann man nicht nach Lust und Laune anwenden", kritisierte Avramopoulos.
Nicht viel besser sieht es bei der direkten Aufnahme von Flüchtlingen aus der Türkei aus. Seit dem Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens am 4. April sind 177 Syrer in EU-Staaten umgesiedelt worden. Die aufnehmenden Länder sind Schweden, Deutschland, die Niederlande, Finnland und Litauen.
Alle andere EU-Staaten machten sich einen schlanken Fuß bemängelte EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos. Allerdings hat er jetzt 12.000 theoretische Zusagen für Umsiedlungen in der Tasche. Die EU-Kommission erwartet, dass bis zum Juli etwa 2000 Syrer wirklich aus der Türkei in die EU gebracht werden können.
Brüssel lobt Ankara
"Die Türkei hält ihre Verpflichtungen aus dem Abkommen mit der EU weitgehend ein", lobte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière in Brüssel. Dem Lob am EU-Türkei-Deal folgte jedoch auch Kritik. "Die innenpolitische Entwicklung in der Türkei erfüllt uns mit Sorge. Darüber muss auch zwischen Partnern gesprochen werden können." Das Vorgehen von Präsident Recep Tayyip Erdogan gegen Parlamentarier, so de Mazère, "wirft Schatten auf unsere Beziehungen."
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex bestätigt, dass die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die an der türkischen Küste in Richtung Griechenland aufbrechen, drastisch zurückgegangen ist. Im April kamen nur noch 2700 Menschen über diese Route auf den griechischen Inseln an. Das sind 90 Prozent weniger als im März. Über die geschlossene Balkanroute erreichten im März noch 3800 Flüchtlinge und Migranten Österreich und Deutschland.
EU hält Zusagen nicht ein
Griechenland steht nach Einschätzung der EU-Kommission immer noch am Rande einer humanitären Katastrophe, da sich 46 000 Asylsuchende auf dem Festland aufhalten, die auf Verfahren warten. 9000 bis 10 000 davon harren immer noch in dem wilden Lager bei Idomeni aus, wo es erst gestern wieder zu Ausschreitungen kam.
Auf den griechischen Inseln warten weitere 7000 Asylsuchende auf ihre Verfahren. Nach dem Abkommen mit der Türkei sollen diese Menschen nach Abschluss eines Schnellverfahren sämtlich in die Türkei zurückgeschoben werden. Die Verfahren in den "Hotspots" auf den griechischen Inseln laufen aber langsamer an als auf dem EU-Flüchtlingsgipfel Ende März beschlossen wurde.
Der Grund: Die EU-Staaten schickten wesentlich weniger Personal zur Unterstützung, als die EU-Agenturen für Grenzschutz und Asyl, Frontex und EASO, angefordert hatten. Von den insgesamt 472 angeforderten Asyl-Entscheidern sind zwei Monate nach dem Flüchtlingsgipfel gerade einmal 63 in Griechenland angekommen.
Zum anderen lehnen die zuständigen Richter auf der Insel Lesbos, die Anträge von Asylbewerbern nicht regelmäßig ab, wie sich die EU das eigentlich nach ihrem Abkommen mit der Türkei vorgestellt hatte. Von 174 bislang entschiedenen Verfahren endeten 100 damit, dass die syrischen Antragsteller von Lesbos aufs griechische Festland weiterreisen durften.
"Notbremse" gegen Visa-Freiheit
Letzter großer Streitpunkt aus dem EU-Türkei-Deal ist die zugesagte Visa-Liberalisierung. Die EU-Kommission hatte Anfang Mai empfohlen, von Juli an türkischen Staatsbürgern die Einreise in die EU ohne Visum zu erlauben. Die Innenminister der EU haben aber noch Bedenken, diesen Beschluss zu fassen.
Die Türkei müsse noch ihre Gesetze zur Terrorismusbekämpfung ändern, forderte der luxemburgische Migrationsminister Jean Asselborn: "Ich glaube, dass hier die Türkei ein Stück auf uns zugehen muss. Es ist unwahrscheinlich, dass wir das über die Bühne bekommen, wenn kein Schritt von der Türkei gemacht wird."
Der belgische Migrationsminister Theo Francken befürchtet, dass es nach einer Visa-Liberalisierung zu vermehrten Asylanträgen türkischer Staatsbürger kommen würde. Das habe man auch nach der Visa-Liberalisierung für Balkan-Staaten in den Jahren 2011 und 2012 erlebt.
Um solchen Entwicklungen vorzubeugen, beschlossen die EU-Innenminister eine neue Klausel, die eine Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs bei Missbrauch der Regeln vorsieht. Diese neue Klausel, auch Notbremse genannt, soll nicht nur für die Türkei, sondern für alle Staaten gelten, mit denen die EU visafreies Reisen vereinbart hat.
Zeit für die Visa-Gesetzgebung wird knapp
Das Europäische Parlament, das einer Aufhebung der Visumpflicht für Türken zustimmen müsste, hat diese "Notbremse" bereits vollzogen. Es legte in der vergangenen Woche den Schritt wegen rechtlicher und innenpolitischer Zustände auf Eis. Ob unter diesem Umständen die nötigen Gesetzgebung bis zum Juli noch verabschiedet werden kann, ist fraglich.
In Brüssel hofft man nun, den Stichtag für die Visafreiheit von Juli auf Oktober verschieben zu können. Vorher gäbe es in der Türkei wahrscheinlich auch nicht die benötigten biometrischen Reisepässe, mutmaßte der luxemburgische Innenminister Jean Asselborn.