EM 2024 - was wir aus der Vorrunde mitnehmen
27. Juni 2024Die Mär von der deutschen Effizienz
Das vielleicht am meisten diskutierte Thema des bisherigen EM-Turniers in Deutschland liegt nicht auf dem Fußballplatz - eher auf der Schiene, auf den Bahnhöfen. Denn schnell realisieren die Besucher: Deutsche Effizienz, das war einmal. Überrascht? Nun, während die Einheimischen an Zugausfälle und Verspätungen im Fern- und Nahverkehr gewöhnt sind, waren die unerwarteten Probleme für Zehntausende ausländischer Gäste ein Schock. Deutsche Präzision und Pünktlichkeit entpuppten sich als Fata Morgana. Selbst Turnierdirektor Philipp Lahm kam zu einem Spiel zu spät, weil er der Deutschen Bahn vertraute.
Vor allem Köln, Düsseldorf, München und Gelsenkirchen haben tatkräftig zur Demontage des Mythos von der deutschen Effizienz beigetragen. Auf dem Weg zum Kölner Stadion am Mittwochabend erinnerte sich ein Fan gegenüber der DW mit Wehmut an glücklichere Zeiten: "Ich war 2006 [bei der Fußball-WM der Männer in Deutschland - Anm. d. Red.] hier, und den ganzen Sommer über gab es keinen einzigen verspäteten Zug!"
Der Fußball der alten Schule erlebt eine Renaissance
In der Welt des Fußballs auf Vereinsebene mögen die Klemmbrett-Schreiber, Daten-Nerds, Statistiker und Taktiker die Oberhand gewonnen haben, aber im internationalen Fußball scheint es noch Platz für Anarchie zu geben. Einige der bisherigen Spiele haben eine willkommene Prise hochoktaniger Energie der alten Schule geliefert. Nehmen wir das Spiel der Türkei gegen Georgien, eines der packendsten der Gruppenphase. Das war anaerober Fußball: keine Verschnaufpausen, stattdessen rennen, sprinten, stürmen. Fast panikartige Angriffe wurden dem geduldigen Ballbesitz-Fußball vorgezogen, hohes Risiko der Verteidigung, scheinbar aussichtslose Fernschüsse den ausgeklügelten Spielzügen.
Daraus entwickelte sich eine unvergessliche Begegnung, eine bemerkenswerte EM-Premiere Georgiens, die zwar in einer 1:3-Niederlage mündete, später aber sogar mit dem Einzug ins Achtelfinale belohnte werden sollte. Und das in einem für die Georgier zunächst äußerst unwirtlichen Umfeld. Der Lärm der türkischen Fans war ohrenbetäubend, ihre Kraft furchterregend. Das Dortmunder Stadion lieferte den spektakulären Rahmen, und der Fußball passte sich an: chaotisch, elektrisierend, mitreißend.
Die Politik lässt sich nicht heraushalten
Das Motto der Euro 2024 lautet "United by Football", "Vereint durch den Fußball". Was zutreffen mag in dem Sinne, dass 24 Länder in einem Land zusammenkamen, um ihren Meister zu ermitteln. Wenn da nicht Fälle wie der des albanischen Spielers Mirlind Daku wären, die von der Zweitracht unter der Oberfläche zeugen. Die UEFA sperrte Daku für zwei Spiele, weil er nach dem 2:2-Unentschieden gegen Kroatien mit albanischen Anhängern nationalistische Gesänge angestimmt hatte. Die UEFA erklärte, dass die fraglichen Gesänge den Fußball in Verruf brächten.
Der albanische Verband wurde zu einer Geldstrafe von insgesamt 50.000 Dollar (46.800 Euro) verurteilt, nachdem die Fans während desselben Spiels "Tötet die Serben" skandiert hatten. Berichten zufolge haben kroatische Fans dasselbe gebrüllt. Beim Eröffnungsspiel gegen Serbien hielten englische Fans die Flagge des unabhängigen Kosovo hoch, als die Nationalhymnen gesungen wurden. Ihnen gegenüber hielten die Serben ein Transparent hoch, auf dem die Aufschrift "No Surrender" (Keine Kapitulation) über einer Karte Serbiens mit dem Kosovo prangte. Vor dem anschließenden Spiel soll eine Gruppe von Anhängern bei ihrem Marsch über den Münchener Marienplatz "Kosovo ist das Herz Serbiens" skandiert haben.
Gleich mehrere Gastgeber
Deutschland hat sich 2018 im Bewerbungsverfahren um diese EM gegen die Türkei durchgesetzt. Komisch nur, dass sechs Jahre später der unterlegene Kandidat trotzdem ein Heimturnier bekommt. Dazu muss man wissen, dass zwischen zweieinhalb und drei Millionen Menschen in Deutschland türkische Wurzeln haben. So ist es kein Wunder, dass die türkischen Fans bei der Euro so beeindrucken. Zweimal in Dortmund und einmal in Hamburg dürfte sich die türkische Elf wie zu Hause gefühlt haben, angesichts Zehntausender lautstarker Anhänger. Ihre armen Gegner mussten in den Hexenkesseln bei jedem Ballbesitz ohrenbetäubende Pfeifkonzerte über sich ergehen lassen.
Deutschlands Nachbarn im Nordwesten, die Niederlande, könnten ebenfalls Anspruch auf den Titel des Ehren-Gastgebers erheben. Der Ansturm der Oranje-Fans in Hamburg, Berlin und Leipzig brachte die Erde gewissermaßen zum Beben.
Und wenn wir schon beim Thema "besondere Fans" sind: Die Schotten und ihre Fans haben während ihres kurzen Aufenthalts bei diesem Turnier auch viele deutsche Herzen erobert. Die "Tartan Army", wie sich die schottischen Fans nennen, war so sympathisch, dass eine Online-Petition, in der ein jährliches Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und Schottland gefordert wurde, fast 50.000 Unterschriften erhielt.
Nichts geht über ein "richtiges" Turnier
Wie viele Fans aus vielen verschiedenen Ländern der DW sagten, ist der Reiz eines "richtigen" Turniers - im Sommer, in einem Land, in einer Zeit ohne Pandemie - immens, vor allem nach einer so langen Zeit ohne ein solches. Abgesehen von den Verkehrsproblemen und dem Wetter in der ersten Woche ist Deutschland bislang ein perfekter Gastgeber: die Stadien Weltklasse, die Atmosphäre außergewöhnlich. Die Sicherheitsbedenken wurden bisher zerstreut, es gab fast keine Ausschreitungen.
Die lang gehegten Hoffnungen der Deutschen auf ein zweites Fußball- "Sommermärchen" nach der WM 2006 scheinen sich zu erfüllen - zumindest soweit man ein so nebulöses und schwer fassbares Phänomen messen kann. Da kann es sicher nicht schaden, wenn Deutschland noch ein bisschen länger im Wettbewerb bleibt. Aber selbst wenn das DFB-Team die Bühne der Heim-EM verlassen sollte, werden diejenigen, die im Turnier verbleiben, weiterhin freundlich empfangen werden.
Dieser Artikel ist im Original auf Englisch erschienen.