Ende eines kurzen Reformexperimentes
15. November 2019Die Republik Moldau, gelegen zwischen Rumänien und der Ukraine, verfügt formal über alle modernen rechtsstaatlichen Institutionen. Sie ist dennoch ein Staat in Agonie. Das Land zählt zu den drei ärmsten Europas, ist zerfressen von Korruption und organisierter Kriminalität und bietet seinen Menschen so gut wie keine akzeptablen sozialökonomischen Perspektiven. Mindestens ein Drittel der nominell dreieinhalb Millionen Einwohner arbeitet jenseits der eigenen Landesgrenzen. Ein Land also, das verzweifelt Reformen braucht.
Im Juni dieses Jahres ergab sich erstmals seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 eine echte Chance dafür. Nach einem dramatischen Machtkampf mit dem Oligarchen Vlad Plahotniuc, der schließlich außer Landes flüchtete, kam eine Regierung unter Führung der Ökonomin und der als radikal und unbestechlich geltenden proeuropäischen Reformpolitikerin Maia Sandu an die Macht - die erste wirkliche Reformregierung, die das Land hatte.
Die Macht der alten Seilschaften
Doch das Experiment dauerte nur fünf Monate. Am Dienstag dieser Wochestürzte Sandus Regierung über ein Misstrauensvotum. Ihre mitregierenden Koalitionspartner, die Sozialisten, entzogen ihr die Unterstützung. Nominell ging es dabei um die Personalie für den Posten des Generalstaatsanwaltes. Sandu wollte einen unabhängigen Kandidaten, der streng gegen Korruption und organisierte Kriminalität vorgegangen wäre. Doch sie konnte sich gegen die alten Seilschaften, zu denen auch die Sozialisten gehören, nicht durchsetzen. Sie manipulierten das Auswahlverfahren.
Sandus Regierung basierte von Anfang an auf einer "unnatürlichen Koalition", wie sie im Land verbreitet hieß. Sandu repräsentiert das Anti-Korruptionsbündnis ACUM, das für eine enge Anbindung an die EU eintritt. Die Sozialisten entstammen dem gewendeten postsowjetischen Polit-Establishment, sind Teil der Kleptokratie im Land und pflegen enge Beziehungen zu Russland, wenngleich sie nicht uneingeschränkt kremlhörig sind. Aus jeweils eigener Motivation heraus war ihr gemeinsamer Feind der Oligarch Vlad Plahotniuc. Er hatte in den vergangenen Jahren ein zutiefst kriminelles Regime errichtet und war mitverantwortlich für den "Milliardenraub", bei dem mehr als eine Milliarde Euro aus drei moldauischen Banken verschwand. Plahotniuc und einige seiner Komplizen werden derzeit mit internationalen Haftbefehlen gesucht.
Dilettanten an der Macht
Frühzeitig war klar, dass die Sozialisten nur eingeschränkte Reformen dulden würden. Zu sehr hätte etwa eine strenge, unparteiische Justiz ihre Interessen verletzt. Umgekehrt standen für Sandu und das ACUM-Bündnis rote Linien von vornherein fest. Schließlich war es der Posten des Generalstaatsanwaltes, der für Sandu nicht mehr verhandelbar war.
Zugleich gehört zur bitteren Wahrheit auch, dass das äußerst heterogene und intern zerstrittene ACUM-Bündnis, das aus einer zivilen Protestbewegung in den Jahren 2014/2015 entstanden ist und noch nie regiert hatte, unerfahren, amateurhaft, planlos und auch naiv agierte. Statt die Gunst der Stunde zu nutzen und sofort radikale rechtsstaatliche und administrative "Schockreformen" durchzusetzen, konstatiert etwa der Bürgerrechtler Veaceslav Balan, ACUM habe gezögert, strategische Fehler in Personalfragen begangen und sich nicht offensiv gegen die Sozialisten durchgesetzt.
Alte neue Machtstrukturen
Der alleinige starke Mann im Land ist nun Staatspräsident Igor Dodon, derzeit nominell parteilos, wie es die Verfassung vorschreibt, ehemals aber Chef der Sozialisten und bis heute derjenige, der in der Partei faktisch das Sagen hat. Den bisherigen nominellen Reformkurs des Landes macht er in atemberaubendem Tempo rückgängig - auch wenn er offiziell das Gegenteil erklärt.
Bereits am Tag nach der Entmachtung von Sandu und ihrer Regierung nominierte er einen seiner Berater, den parteilosen Ökonomen und Ex-Finanzminister Ion Chicu, als neuen "technokratischen" Premierminister. Keine 24 Stunden später erhielt seine Regierung im Parlament das Vertrauen - mit den Stimmen von Plahotniucs "Demokratischer Partei". Chicus Kabinett wird nun voraussichtlich bis zur Präsidentschaftswahl im Herbst als Minderheitsregierung amtieren.
Abgekartetes Spiel
Verblüffend ist zum einen das Tempo, mit dem Dodon die neue Regierung installierte. Das deutet daraufhin, dass er im Hintergrund mit der Demokratischen Partei schon seit längerem über einen Sturz der Regierung Sandu und ein Nachfolgekabinett verhandelt hatte. Auch die Personalie Chicu selbst ist bemerkenswert. Der neue Premier, der in der Ära Plahotniuc Finanzminister gewesen war, hat sich erst unlängst in einem Facebook-Post mit wolkigen, aber schwerwiegenden Anspielungen EU-kritisch geäußert. So warf er der EU und konkret unter anderem dem ehemaligen Erweiterungskommissar Stefan Füle indirekt vor, den Milliardenraub Plahotniucs und seiner Komplizen begünstigt zu haben. Inzwischen hat Chicu den Post gelöscht.
Viele Beobachter gehen nun davon aus, dass die Republik Moldau wieder auf größere Distanz zur EU geht und sich weiter Russland annähert. Wie sich das konkret äußern wird, muss allerdings abgewartet werden. Tragisch ist für das Land selbst und seine Bürger vor allem, dass es vorerst keine durchgreifenden Reformen mehr geben wird.
"Die Diebe im Parlament"
Für Europa wiederum ist es eine besorgniserregende Nachricht. Zwar spielt die Republik Moldau außerhalb ihrer Grenzen kaum eine Rolle in der Öffentlichkeit, doch in Wirklichkeit stellt sie für Europa ein schweres Sicherheits- und Stabilitätsproblem dar. Nicht nur, weil das Land, das an einer wichtigen Außengrenze der EU liegt, äußerst schwache oder nicht funktionierende Institutionen hat.
Seit drei Jahrzehnten zerreibt auch ein separatistischer Konflikt im Osten der Republik, genannt Transnistrien, das Land. Dort sind russische Soldaten und Waffen stationiert, nominell herrschen orthodoxe Kommunisten, in Wirklichkeit ist Transnistrien eine Drehscheibe für alle Arten organisierter Kriminalität.
Die EU hat aufgrund ihrer Sicherheitsinteressen im vergangenen Jahrzehnt viel Aufmerksamkeit und Energie aufgewandt, um Reformen im Land zu unterstützen. Meistens mit wenig Erfolg. Die Regierungschefin Maia Sandu brachte den Grund dafür nach ihrer Absetzung mit einfachen Worten auf den Punkt: "Die Diebe im Parlament haben Angst vor unseren Reformen."