Ende May am 8. Juni?
1. Juni 2017Die größten innerbritischen Auseinandersetzungen um den Brexit waren Mitte April vorbei. Theresa May brauchte nach dem Rücktritt ihres Vorgängers David Cameron ein eigenes Mandat vom Wähler - vor allem eines, das ihr bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen mit der EU eine Position der Stärke verschafft. Und die Umfragewerte für die Konservativen waren gut. Die Zeit für baldige Neuwahlen schien günstig. Termin ist der 8. Juni.
Für die Tories besonders erfreulich: Sie, die seit Jahrzehnten in Schottland praktisch keine Rolle mehr spielten, erleben nördlich des Tweed eine neue Blüte - ausgerechnet in Schottland, das mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt hat, und wo die Schottische Nationalpartei ein neues Unabhängigkeitsreferendum fordert. Mays Leitspruch, dass Großbritannien vereint und unter ihrer Führung in Brüssel für britische Interessen kämpfen soll, schien überall zu ziehen. Noch Anfang Mai wurde der Partei ein ähnlich fulminanter Wahlsieg zugetraut, wie ihn Margaret Thatcher 1983 kurz nach dem gewonnenen Falklandkrieg davontrug.
Auch Corbyn ist kein großer Europafreund
Die Labour-Partei unter dem Altlinken Jeremy Corbyn dagegen wirkte schwach und unsicher. Selbst viele Corbyn-Fans befürchten, dass sich der bärtige Pazifist von den "Europäern" über den Tisch ziehen lassen würde. Die immer höheren Summen, die Brüssel als Austrittsrechnung forderte, stärkten May zusätzlich, die seit Monaten trotzig sagt: "Gar kein Abkommen ist besser als ein schlechtes Abkommen." Wer als Wähler gegen den Brexit ist, stimmt am besten für die Liberaldemokraten. Corbyn dagegen hatte kurz dem Referendum gesagt, sein Enthusiasmus für einen Verbleib liege auf einer Skala von eins bis zehn bei "sieben oder siebeneinhalb".
Auch Anschläge wie der von Manchester kommen traditionell eher Law-and-order-Parteien zugute. Corbyn hatte dagegen gesagt, man bekomme jetzt die Rechnung für britische Militärinterventionen im Ausland. Das legen ihm seine Gegner als Defätismus aus. May dagegen hat schon seit ihrer Zeit als Innenministerin das Image einer zweiten "Eisernen Lady".
Eine "Todessteuer" und Feigheit vor dem Feind
Und jetzt soll alles anders sein? Der konservative Vorsprung in den Umfragen ist auf wenige Prozentpunkte geschrumpft. Der Grund für den Stimmungsumschwung lässt sich ziemlich genau benennen, und er hat nichts mit dem Brexit oder mit innerer Sicherheit zu tun, sondern mit einem eher banal klingenden Punkt im Tory-Wahlprogramm: mit einer Renten- und Pflegereform. Die aber ist plötzlich DER Aufreger im Land: Wer stirbt, dessen Haus soll im nachhinein für die Begleichung der Pflegekosten herangezogen werden. Corbyn nennt das die "Todessteuer", vielleicht in Anspielung auf die "Kopfsteuer", die 1990 die Regierung Thatcher mit zu Fall brachte.
Als Feigheit wurde es May dann ausgelegt, als sie es ablehnte, sich in einer direkten Konfrontation mit Corbyn in einem Fernsehduell zu messen. "Wenn Corbyn zu einer Debatte auftaucht, während seine Kampagne gerade in Schwung kommt, und May kneift, während ihre gerade schwächelt, sieht das für Wähler einfach nicht gut aus", bemerkt dazu der Politologe Matthew Goodwin.
May ist wie "Marmite": Man liebt sie oder hasst sie
Die Meinungen über Corbyn gehen weit auseinander: Das wirtschaftsliberale Magazin "The Economist" verachtet ihn als Politiker, "der ideologischen Extremismus mit politischer Inkompetenz verbindet". Corbyn ist, ganz wie die alte Labour-Partei aus der Zeit vor Tony Blair, für Verstaatlichungen, höhere Steuern für Reiche und mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem. Das kommt bei ärmeren Briten und vor allem bei jungen Leuten an, von denen manche den 68jährigen Corbyn wie einen Guru verehren. "Die Unterstützung junger Wähler ist bei Labour dramatisch gestiegen", so der Politikwissenschaftler John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow, fügt aber hinzu: "Die entscheidende Frage wird sein, ob diese jungen Leute tatsächlich zur Wahl gehen werden."
Aber auch Theresa May spaltet die Nation, genauso wie der urbritische Brotaufstrich "Marmite". "Liebe oder hasse es" steht selbstironisch auf den "Marmite"-Gläsern. Inzwischen wird die Premierministerin "Marmite May" genannt, weil manche sie lieben und andere sie ebenso sehr hassen. Doch "selbst Leute, die May nicht mögen, sind von ihren Fähigkeiten als Premierministerin überzeugt", glaubt Chris Professor von der Universität Manchester.
Schwierige Vorhersagen
Dass die atemberaubende Aufholjagd der Labour-Partei in den Umfragen nicht viel heißen muss, lehrt die jüngere Geschichte. Nicht nur, dass nach Brexit und Trump kaum noch jemand Umfragen traut; das britische Mehrheitswahlrecht erschwert Vorhersagen zusätzlich. "Selbst ein erheblicher Vorsprung in den Umfragen bedeutet nicht unbedingt eine große Mehrheit im Unterhaus", sagt John Curtice. 2015 zum Beispiel erreichten die Konservativen die absolute Mehrheit der Sitze - bei nur 37 Prozent der Stimmen. Andererseits erhielt die europafeindliche UKIP 13 Prozent der Stimmen, aber nur ein einziges Mandat.
Apropos UKIP: Wie keine andere Partei hat sie für den Austritt aus der EU gekämpft. Jetzt, wo sie ihr Hauptziel erreicht hat und der charismatische Nigel Farage als Chef abgetreten ist, fühlen sich viele UKIP-Anhänger recht gut von Theresa Mays Konservativen vertreten. Politikwissenschaftler John Curtice glaubt denn auch und ist sich mit der Mehrheit der Auguren einig: "Die Konservativen werden wohl gewinnen."