Der Philosoph Jürgen Habermas wird 90
18. Juni 2019Erst vor wenigen Wochen warb Jürgen Habermas in Berlin für ein Europa jenseits eines bornierten Nationalismus. In seinem 89. Lebensjahr erhielt er für sein Engagement für ein demokratisches Europa den Deutsch-Französischen Medienpreis. "Ach, Europa" stöhnt Habermas dazu passend in einem Bändchen, das vor einigen Jahren im Suhrkamp Verlag erschienen ist und seine Beiträge und Reden zur Integration Europas präsentiert.
Jürgen Habermas zählt zu den einflussreichsten lebenden Philosophen und Soziologen aus Deutschland. An diesem 18. Juni wird er 90 Jahre alt. Und es ist immer noch kein bisschen still um den "Frankfurter Feuerkopf". Im September erscheint im Suhrkamp Verlag sein neuestes Werk mit dem bescheidenen und vielsagenden Titel "Auch eine Geschichte der Philosophie", zwei Bände von 1700 Seiten, die laut Verlagsangabe zeigen, wie sich das Denken seit der Antike entwickelt hat.
Öffentlichkeit entsteht erst Ende des 17. Jahrhunderts
Um das große Ganze geht es eigentlich immer bei Jürgen Habermas, der auch dazu bereit ist, für eben dieses große Ganze zu streiten und sich einzumischen. Es ist typisch Habermas, dem ein Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention eine Herzensangelegenheit ist. Er ist einer der wenigen öffentlichen Intellektuellen Deutschlands, die regelmäßig zu politischen Entwicklungen Stellung nehmen. Schon seine Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit", die er 1961 in Marburg vorlegte, gilt bis heute als bahnbrechend. "Öffentlichkeit" sieht er als eine "historische Kategorie"; so zeigt er beispielsweise, dass von "öffentlicher Meinung" erst spät, nämlich im England des ausgehenden 17. und im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die Rede sein kann.
Impulsgeber der 68er-Generation
Jürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren, heute lebt er im bayerischen Starnberg. Am engsten verbunden ist sein Name aber mit Frankfurt am Main. Als Vertreter der sogenannten "Kritischen Theorie", eine Form der Fortsetzung der Marx'schen Kapitalismuskritik nach dem Scheitern oder Ausbleiben der proletarischen Revolution in den industriell entwickelten Ländern Europas, war er ein wichtiger Impulsgeber der Frankfurter Schule. So nannte sich ein Kreis von Intellektuellen, die Max Horkheimer, Sozialphilosoph und Leiter des Frankfurter "Instituts für Sozialforschung", um sich geschart hatte. Ein Hauptmotiv ihrer Forschung betraf die Frage, warum das aufgeklärte Denken, das den Menschen durch ihre eigene Vernunft die Befreiung von Naturgewalten und Aberglauben brachte, in die Barbarei des Nationalsozialismus umschlagen konnte.
Promoviert hatte Habermas in Bonn mit einer Arbeit über den Philosophen Schelling (1775-1854). 1964 übernahm er von Max Horkheimer (1895-1973) den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt, den er zunächst bis 1971 innehatte - in der Zeit der Studentenproteste. Viele 68er beriefen sich auf Habermas und sahen ihn als geistigen Mentor, doch als die Bewegung sich radikalisierte, übte Habermas offen Kritik an ihr. In seinem Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" entwarf er 1981 eine Art Handlungsleitfaden für die moderne Gesellschaft. Seiner Theorie zufolge liegen die Norm setzenden Grundlagen einer Gesellschaft in der Sprache: Erst sie als Verständigungsmittel ermögliche soziales Handeln. Wie ist der "zwanglose Zwang des besseren Arguments?", die "ideale Sprechsituation" oder der "herrschaftsfreie Diskurs" in einer Demokratie zu realisieren, so lauten seine zentrale Fragen.
Sprache als Quelle der Vernunft
Habermas glaubt an die Kraft der Kommunikation. Die besondere sprachliche Sensibilität des Philosophen spricht auch aus den Titeln seiner Publikationen: "Erkenntnis und Interesse"; "Faktizität und Geltung"; "Wahrheit und Rechtfertigung". Zumindest im akademischen Betrieb haben sie es zu einiger Popularität gebracht, allein schon aufgrund ihres beinahe magischen Klangs, mit dem sie scheinbar bekannte Begriffe aneinander binden und diese in ein neues Licht tauchen. So paarte sich, was über Jahrzehnte zum Markenzeichen der Habermas'schen Philosophie wurde: engagiertes Denken und eleganter Stil - auch wenn dieser Stil hohe Anforderung an die Geduld und Dechiffrierungskunst seiner Leser stellte.
Eine politisierte Generation
Aber so ist es eben: Die Dinge sind nicht einfach. Vor allem muss man, wenn man sie anspricht, genau sein. Denn Ambivalenz mag gut für die Dichtung sein, in der Philosophie, zumal der politischen Philosophie, ist sie fehl am Platz. Und Habermas ist ein politischer Philosoph par excellence. Das kann kaum anders sein bei einem, der in jungen Jahren das Ende einer Katastrophe erlebte. Wie die Schriftsteller Martin Walser, Günter Grass und Siegfried Lenz, der Soziologe und Publizist Ralf Dahrendorf und alle anderen führenden Intellektuellen und Künstler der späteren Bundesrepublik wuchs auch Jürgen Habermas im Schatten des Nationalsozialismus auf. Diese Erfahrung drückte seinem ganzen Lebenswerk den Stempel auf: Was war geschehen, dass es so weit kommen konnte? Was war in die Deutschen gefahren, dass sie 1933 einen tobenden, vulgären Antisemiten zum Reichskanzler wählten? Und vor allem: Wie ließe sich verhindern, dass es zu einer derartigen Konstellation und Stimmung noch einmal käme?
Philosophie nach dem Sündenfall
Diese Fragen stehen am Anfang der Habermas'schen Philosophie. Sie inspirierten ihn zu jenen komplexen Kommunikationsmodellen, jenen Entwürfen öffentlicher Instanzen und Mechanismen, in denen die Mitglieder ihrer Gesellschaft ihre unterschiedlichen Interessen miteinander in Ausgleich bringen könnten. "Konsensual" nannte man diese Gesellschaftsmodelle, und der Begriff traf wie wenig andere das Selbstverständnis der Bundesrepublik. Keine Befehle von oben sollten die Bürger mehr empfangen, stattdessen selbst öffentlich intervenieren, ihre Standpunkte erkennbar formulieren und in eine umfassende Diskussion einfließen lassen, an deren Ende der Kompromiss stand. So entsprachen die Habermas'schen Gesellschaftsentwürfe exakt jener dem Dialog verpflichteten Friedfertigkeit, die sich die Bundesrepublik nach dem nationalsozialistischen Sündenfall auf die Fahnen schrieb.
Der Klang des Denkens
Wäre die Bundesrepublik Deutschland ohne Habermas eine andere geworden? Wohl kaum. Allerdings hätte ihr zu Teilen jener spezifische Klang gefehlt, in dem Habermas das Werden dieser Republik philosophisch kommentiert. Und dieser Klang - abstrakt, hermetisch, unzugänglich, wie er war -, dieser Klang entsprach genau jenem, den die Pop- und Rockmusik seit den 1960er Jahren ins Land trug. Beide arbeiteten sie jener weltoffenen Atmosphäre zu, die die Bundesrepublik in der Folgezeit immer stärker prägte. So spielte Jürgen Habermas auf seine Art die Begleitmusik zu jenem langen Marsch, auf den sich die nachkriegsdeutsche Gesellschaft begeben hatte - auf dem sie ein für alle Mal den Abschied aus der Provinz nahm.