Erdogan lässt sich als Retter feiern
15. Juli 2017Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mehrfach klargemacht, dass es nicht nur um die Verfolgung der Putschisten vom 15. Juli 2016 gehe, sondern um einen umfassenden "Umbau" der gesamten türkischen Gesellschaft. Dem wurde auch die staatliche Choreografie der tagelangem Feierlichkeiten zum Gedenken an die dramatischen Ereignisse vom Sommer vergangenen Jahres untergeordnet. Erster Höhepunkt war die Sondersitzung des Parlaments in Ankara, beim Umsturzversuch selbst Ziel massiver Bombardements.
Regierungschef Binali Yildirim sagte vor den Abgeordneten, die Türkei habe am 15. Juli einen "zweiten Unabhängigkeitskrieg" gewonnen. "Es ist ein Jahr her, dass aus der dunkelsten Nacht die Nacht der Helden wurde", sagte er. Yildirim bezog sich mit seiner Ansprache auf den Krieg nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, aus dem 1923 die Türkische Republik hervorgegangen war.
Wer steckte wirklich hinter dem Putsch?
Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der größten Oppositionspartei, der CHP, warf der Regierung vor, die Aufarbeitung der Putschereignisse und -hintergründe zu behindern. "Die Justiz wurde zerstört", beklagte Kilicdaroglu im Parlament. Für eine vollständige Aufarbeitung müssten diejenigen, die die Putschisten und Unterstützer "an den empfindlichsten Stellen des Staates" platziert hätten, zur Rechenschaft gezogen werden, forderte der CHP-Chef weiter mit Blick auf das Regierungslager. Der stellvertretende Chef der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Ahmet Yildirim, kritisierte unter anderem die Massenentlassungen und die Inhaftierungen von HDP-Abgeordneten. Er beschuldigte Erdogans AKP, einen "zweiten Putsch" durchgeführt zu haben.
Am Abend eröffnet Erdogan an einer Bosporus-Brücke in Istanbul ein Denkmal für die 249 Opfer des Putschversuchs. Kurz nach Mitternacht sind die Türken aufgerufen, wie in der Putschnacht zu "Demokratiewachen" auf die Straße zu kommen. Zudem wird Erdogan zum Zeitpunkt des Bombardements der Volksvertretung in der Nacht dort eine Rede halten. Von den Minaretten von 90.000 Moscheen soll ein besonderer Gebetsruf erklingen, wie damals, als sich die Muezzins gegen die Umstürzler stellten.
Gülens Verschwörung?
Das Jahr seit dem Umsturzversuch hat die Türkei geprägt wie kaum ein anderes in der jüngeren Vergangenheit - und hat Erdogan stark gemacht wie nie. Den Jahrestag nutzen er und seine islamisch-konservative AKP zur Demonstration ihrer Macht.
Erdogan macht für den Putsch den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen verantwortlich. Eindeutige Beweise konnten bis heute nicht vorgelegt werden. Im In- und Ausland werden jedoch Regierungskritiker verfolgt unter dem Generalverdacht, Anhänger Gülens zu sein.
Erdogan hatte bereits am Morgen des 16. Juli erklärt, der Putschversuch sei "letztendlich ein Geschenk Gottes". Er verhängte den Ausnahmezustand, der ihn ermächtigt, per Dekret zu regieren. Sofort begannen die von Erdogan so bezeichneten Säuberungen, die bis heute andauern.
Türkei tief gespalten
Während der Staatschef und seine Gefolgschaft den Jahrestag dazu nutzen, einen "Sieg der Demokratie" zu feiern, bezeichnet die Opposition Erdogan als "Diktator" oder "Sultan". Sie wirft ihm vor, den Ausnahmezustand für einen "zivilen Putsch" und den Weg in die Autokratie missbraucht zu haben.
"Ein Jahr nach dem Putschversuch ist Präsident Erdogan stärker denn je", sagt Özgür Ünlühisarcikli, Büroleiter in Ankara vom German Marshall Fund. "Seine Kontrolle über seine AKP ist absolut, und infolge der Atmosphäre der Angst, die durch die Entlassungen nach dem Putschversuch erzeugt wurde, ist seine Kontrolle über die Bürokratie, den Privatsektor und die Medien so fest wie noch nie."
Der Putschversuch ermöglichte es Erdogan nicht nur, Kritiker auszuschalten oder zumindest unter massiven Druck zu setzen. Er ebnete ihm auch den Weg dafür, per Verfassungsreferendum das von ihm so dringend angestrebte Präsidialsystem einzuführen, das seine Gegner als Schritt zu der von ihnen befürchteten Ein-Mann-Herrschaft ablehnen.
SC/qu (afp, dpa, APE)