Ermüdungsbruch: Wenn sich der gestresste Knochen wehrt
29. März 2024Stressfrakturen können alle erwischen, die sich beim Sport übernehmen. "Leistungs- und Hobbysport sind gleichermaßen betroffen. Es geht um die relative Überlastung", erklärt Karsten Hollander der DW. "Man schreibt sich zum Beispiel an Silvester für einen Frühjahrsmarathon ein und beginnt, von null auf 20, auf 40, auf 60 Kilometer pro Woche zu trainieren. Das sind Hochrisiko-Momente. Das Gleiche kann einem Leistungsläufer nach vier Wochen Pause passieren - etwa einem College-Läufer, der nach den Semesterferien sehr schnell wieder mit hoher Belastung einsteigt."
Hollander ist Professor für Sportmedizin an der Medical School Hamburg und seit Januar auch leitender Verbandsarzt des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV). "In meiner eigenen Karriere als Mittelstreckenläufer bin ich mit nur einer niedrig-gradigen Stressfraktur durchgekommen", verrät der Sportmediziner, der bereits seit seinem Studium zu dieser Verletzungsart forscht.
Schleichender Prozess
Ein klassischer Bruch entsteht, wenn eine Kraft, zum Beispiel durch einen Schlag oder Tritt, plötzlich von außen auf den Knochen einwirkt. Dagegen steht eine Stressfraktur - häufig auch als Ermüdungsbruch bezeichnet - am Ende eines schleichenden Prozesses. Wissenschaftler sprechen deshalb auch von "bone stress injuries", knöchernen Stressverletzungen. Sie reichen von Ödemen - schmerzhaften Wasseransammlungen im Knochen - bis zum Bruch.
"Die Schmerzen sind in der Regel schon zu Beginn des Laufs da und werden eher schlimmer, sodass man gar nicht bis zum geplanten Ende laufen kann", beschreibt Hollander die Alarmsignale, die auf eine mögliche Stressfraktur hindeuten. "Das unterscheidet sich beispielsweise von Sehnenverletzungen, die nach der Aufwärmphase möglicherweise nicht mehr so schmerzhaft sind wie am Anfang."
Risikostellen sind beim Laufen vor allem das Schienbein und der Fuß. Tauchen dort dumpfe oder ziehende Knochenschmerzen auf, sollte man eine Ärztin oder einen Arzt aufsuchen. Letzte Gewissheit, ob man sich einen Ermüdungsbruch zugezogen hat, bringen dann bildgebende Verfahren wie eine Magnetresonanztomographie (MRT) oder eine Szintigraphie.
Meiste Fälle im Laufsport
Prinzipiell können Stressfrakturen in jeder Sportart auftauchen. Gefährdet sind vor allem die Knochen, die besonders beansprucht werden. So treten Ermüdungsbrüche bei Ruderern oder Golfern vermehrt an den Rippen auf, beim Tennisam Ellbogen oder am Unterarmknochen, nahe des Handgelenks, bei Sprungsportarten wie Basketball sind häufig die Fußknochen, sowie Fuß- und Kniegelenke betroffen. Beim Gewichtheben oder auch beim Geräteturnen ist vor allem der Wirbelbogen gefährdet.
Die meisten Stressfrakturen werden jedoch aus den Laufsportarten gemeldet. "Zum einen ist Laufen in Deutschland eine sehr populäre Sportart mit 18 bis 20 Millionen Aktiven. Das sorgt für hohe Fallzahlen. Zum anderen sind die Aufprallkräfte, die beim Landen wirken, ein wichtiger Faktor für knöcherne Stressverletzungen", erklärt DLV-Verbandsarzt Hollander.
Sportlerinnen sind gefährdeter
Das Risiko von Frauen, sich eine Stressfraktur zuzuziehen, ist laut Studien rund doppelt so hoch wie bei Männern. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen die bei Frauen häufig niedrigere Knochendichte, zum anderen der Hormonspiegel. "Östrogene [weibliche Geschlechtshormone - Anm. d. Red.] sind wichtig für den Knochenstoffwechsel", erklärt Sportmediziner Hollander. "Auch die Art der Verhütung kann eine Rolle spielen: In welchem Maße greifen die Präparate in den Stoffwechsel ein?" Beim DLV gehören deshalb inzwischen auch Sportgynäkologinnen zum medizinischen Netzwerk.
Zudem kommen Essstörungen bei Sportlerinnen häufiger vor als bei Sportlern. Auch sie erhöhen das Risiko von Stressfrakturen. "Zu wenig relative Energiezufuhr muss unbedingt vermieden werden", sagt Hollander.
Ausreichend Calcium, aber nicht zu viel
Um Ermüdungsbrüchen vorzubeugen, sollten Sportlerinnen und Sportler darauf achten, dass ihr Körper ausreichend mit Calcium und Vitamin D versorgt ist. Calcium stabilisiert die Knochen, Vitamin D sorgt dafür, dass Calcium vom Körper besser aufgenommen und in die Knochen eingebaut wird.
Während man in den Sommermonaten beim Sporttreiben normalerweise ausreichend mit dem "Sonnenhormon" Vitamin D versorgt ist, muss Calcium dem Körper zugefügt werden. In der Regel kann man den Tagesbedarf von rund 1000 Milligramm Calcium mit einer gesunden Ernährung gut abdecken, etwa mit Milchprodukten, Gemüse oder auch calciumhaltigem Mineralwasser.
"Aufpassen sollten Vegetarier oder Veganer, die Milchersatzprodukte nehmen. Da gibt es einige mit, andere ohne Calcium", gibt Hollander zu bedenken. Auch wenn bei intensivem Training über den Schweiß Calcium ausgeschieden wird, sollte man nicht gedankenlos zu Calcium-Tabletten greifen, um das Defizit auszugleichen, warnt der Wissenschaftler: "Es kann auch gefährlich sein, zu viel Calcium zu sich zu nehmen. Das kann unter anderem die Gefahr von Nierensteinen erhöhen."
Training langsam steigern
Da Stressfrakturen eine Folge überlasteter Knochen sind, empfiehlt Hollander ein vernünftiges Trainingsmanagement: "Man sollte das Pensum von Woche zu Woche nicht um mehr als 20 Prozent steigern. Das gilt für die Gesamtstrecke in der Woche, für die Länge des längsten Laufs, aber auch für die Intensität und den Umfang der einzelnen Lauf-Intervalle."
Fitness-Apps auf dem Smartphone oder der Smartwatch können dabei helfen, die Belastung zu kontrollieren. Auch eine biomechanische Analyse kann nicht schaden. Denn auch der persönliche Laufstil entscheidet darüber, wie stark die Knochen belastet werden. "Eine hohe Frequenz, also eher kleinere Schritte sind präventiv. Die Belastung pro Schritt ist dann geringer", sagt DLV-Verbandsarzt Hollander.
Und wenn es doch zu einem Ermüdungsbruch kommt? Dann ist die oberste Maxime, den betroffenen Knochen zu schonen. Im Gegensatz zu "klassischen" Brüchen verschieben sich bei Stressfrakturen die gebrochenen Knochenteile nur selten. Deshalb ist es meist auch nicht nötig, den Knochen durch einen Gips komplett ruhigzustellen.
Sogar Sport treiben bleibt möglich, wenn auch auf andere Weise. "Für passionierte Läufer ist die Sportpause meist das Letzte, was sie wollen", weiß Karsten Hollander. "Sie steigen eher auf Fahrradfahren oder Aquajoggen um."