Kein Recht auf Unabhängigkeit
5. Oktober 2017Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein wichtiges Prinzip im Völkerrecht, aber ebenso der Schutz der territorialen Integrität eines Staates. Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung nimmt vor allem das erste für sich in Anspruch, die spanische Zentralregierung dagegen das zweite. Ein Recht auf Sezession gibt es jedenfalls nach dem Völkerrecht nicht, es sei denn, beide Seiten einigen sich darauf, was in Katalonien eindeutig nicht der Fall ist.
Nicht immer ist die Bildung neuer Staaten ein Problem. Als sich Tschechen und Slowaken 1992 trennten, geschah das in gegenseitigem Einverständnis. Als sich die Völker Afrikas in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts für unabhängig erklärten, leisteten die Kolonialmächte zwar zum Teil Widerstand, doch das Selbstbestimmungsrecht der Völker war bei den Vereinten Nationen leitendes Prinzip. Der Bonner Völkerrechtler Prof. Stefan Talmon meint aber, die Katalanen könnten sich nicht darauf berufen: "Das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes setzt voraus, dass es ein Volk gibt, das sich auf dieses Selbstbestimmungsrecht berufen kann. Ein Bevölkerungsteil innerhalb eines Nationalstaates, auch wenn er eine gewisse eigene Identität hat, ist kein Volk im Sinne des Völkerrechts, das sich auf das Selbstbestimmungsrecht berufen kann", so Talmon gegenüber der Deutschen Welle.
Auch die Bayern könnten dies nicht, sollten sie einmal beschließen, aus der Bundesrepublik Deutschland auszuscheiden, ebensowenig wie die Kosovo-Albaner, sie gälten nicht als Volk im Sinne des Völkerrechts. Das Kosovo hat sich 2008 von Serbien für unabhängig erklärt, aber der völkerrechtliche Status ist nach wie vor ungeklärt. Serbien betrachtet das Kosovo nach wie vor als Teil seines Staatsgebiets. Der Internationale Gerichtshof kam 2010 zwar zu dem Ergebnis, die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo verstoße nicht gegen das Völkerrecht, der Gerichtshof legte sich aber in der Statusfrage nicht fest und bestätigte die UN-Resolution 1244, die die Souveränität und territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien, deren Rechtsnachfolger Serbien ist, garantiert.
Andererseits wurden inzwischen Fakten geschaffen: Mehr als die Hälfte der fast 200 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben das Kosovo inzwischen als eigenständigen Staat anerkannt. Spanien ist allerdings bis heute nicht darunter, eben weil die Madrider Regierung einen Präzedenzfall für Katalonien und möglicherweise andere nach Unabhängigkeit strebende Gebiete befürchtet.
Kein Rechtsanspruch
Noch ein anderer Fall ist Schottland. Die britische Regierung unter Premierminister David Cameron war rechtlich nicht zu einem Referendum über eine schottische Unabhängigkeit gezwungen. Dennoch ließ sie 2014 eine Volksabstimmung in Schottland zu, um die Frage politisch zu klären. Ergebnis: Eine Mehrheit von rund 55 zu 45 Prozent votierte für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Selbst die Brexit-Entscheidung, die eine Mehrheit der Schotten abgelehnt hatte, hat Umfragen zufolge an diesem Meinungsbild nichts wesentliches geändert. Die Frage eines unabhängigen Schottland scheint fürs erste geklärt zu sein.
Und Katalonien? Von einer Unterdrückung der Katalanen oder der katalanischen Kultur kann heute, anders als zu General Francos Zeiten, keine Rede sein. Katalonien genießt weitgehende Autonomie. Stefan Talmon sieht für die katalanische Unabhängigkeitsbewegung keinerlei rechtliche Grundlage: "Weder im spanischen Verfassungsrecht noch im Völkerrecht gibt es einen Rechtsanspruch auf Unabhängigkeit Kataloniens." Auch Sabine Riedel von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik meint gegenüber der Deutschen Presseagentur: "Die katalanischen Separatisten haben das Anliegen, einen eigenen Staat aus ihrer Region zu machen. Das können sie verfassungsrechtlich nicht, und es widerspricht dem Völkerrecht, da sie Autonomierechte genießen." Kämen die Separatisten mit einer Abspaltung durch, wären die Folgen unabsehbar: "Wenn wir die Verträge, die Staaten geschlossen haben, zur Disposition stellen, dann haben wir neue Konflikte und möglicherweise wieder Krieg in Europa."
Bestehende Staaten wollen keine Änderung
Nicht nur das Völkerrecht, auch europäisches Recht schützt eher den Status quo. In Artikel 4 des Vertrags über die Europäische Union steht, dass die Staaten "ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt", achten - sowie ihre "territoriale Unversehrtheit". Sprich: Abspaltungen sind unerwünscht. Der Grund ist auch, dass in der EU nach wie vor die Mitgliedsstaaten die entscheidenden Spieler sind. Stefan Talmon weist auch für das Völkerrecht darauf hin: "Das Völkerrecht wird von den bestehenden Staaten gemacht. Deshalb ist das Völkerrecht in diesem Bereich der staatlichen Integrität sehr veränderungsresistent. Keiner sägt sich den Ast ab, auf dem er sitzt." Würden die Staaten Abspaltungen "aufgrund von subjektiven Identitätsgefühlen" einzelner Bevölkerunsgruppen oder Gebieten zulassen, glaubt Talmon, gäbe es "innerhalb kürzester Zeit" nicht mehr rund 200, sondern 300 oder 400 Staaten auf der Welt.
Der katalanische "Außenminister" Raül Romeva glaubt allerdings, dass sich die EU "entwickeln kann". Sie sei "ein pragmatisches und dynamisches Projekt. Es passt sich der Realität an." Doch danach sieht es im Moment nicht aus. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat bereits vorsorglich gewarnt: "Katalonien könnte nicht am Morgen des Tags nach einer Abstimmung Mitglied der Europäischen Union werden." Es müsste sich also neu um die Mitgliedschaft bewerben, auch um den Euro und den Zugang zum europäischen Binnenmarkt wieder zu bekommen, die es bei einem Austritt aus dem spanischen Gesamtstaat zunächst verlieren würde. Und bei einer katalanischen Neubewerbung müsste sich nur ein einziger Mitgliedsstaat querstellen, um die Mitgliedschaft zu verhindern. Die spanische Zentralregierung würde das in jedem Fall tun, andere Mitgliedsstaaten, die Abspaltungen befürchten, wahrscheinlich auch. Die katalanischen Separatisten haben also - rechtlich und politisch gesehen - schlechte Karten.