Balanceakt im Libanon
21. Februar 2012Im Fernsehen sind dramatische Bilder von der Versorgung eines Verletzten in der mittelsyrischen Stadt Homs zu sehen. Mohammed schaut gebannt zu. Der 21-Jährige hält sich seit Monaten in dem kleinen libanesischen Städtchen Irsal versteckt. Mohammed ist aus der syrischen Armee desertiert. Auf der Flucht in den Libanon ist er auf eine Mine getreten und wurde schwer verletzt. Sein rechtes Bein musste unterhalb des Knies amputiert werden. Der ehemalige Soldat versteckt sein Gesicht hinter einem rot-weißen Tuch, denn er hat Angst erkannt zu werden. Mohammed wünscht sich, gesund zu werden und mit den Aufständischen zu kämpfen: "Aber meine psychische Verfassung ist nicht besonders gut. In Syrien sterben Kinder, während ich aus der Ferne zusehen und mich hier verstecken muss."
Das Zimmer, in dem Mohammed lebt, dient als Wohn- und Schlafzimmer. Es ist einfach eingerichtet. Auf dem Boden liegen um einen Teppich herum dünne Schaumgummimatratzen. In der Mitte steht ein kleiner schwarzer Ölofen, der eine angenehme Wärme verbreitet. Ein bunter Vorhang trennt diesen Raum von der Küche und dem Bad. Ein Bewohner von Irsal hat dem jungen Syrer dieses Häuschen zur Verfügung gestellt. Ungefähr 100 syrische Familien leben hier in dem Ort. Sie stammen aus den grenznahen syrischen Dörfern und aus Homs, das nur 45 Kilometer entfernt liegt. Irsal ist eine der wichtigsten Durchgangsstationen für Verletzte, die aus Syrien über die Grenze in den Libanon geschmuggelt werden.
Unruhige Grenzregion
Irsal mit seinen ungefähr 40.000 Einwohnern liegt am Hang des Antilibanon-Gebirges, wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Alle Bewohner sind Sunniten und die meisten sympathisieren mit den Aufständischen in Syrien. Der Stadtrat besteht ausschließlich aus Vertretern der prowestlichen „Zukunftsbewegung“, der stärksten sunnitischen Partei im Land - mit Saad al-Hariri an der Spitze. Sie machen zwar aus ihrer derzeitigen syrien-kritischen Haltung keinen Hehl, aber finanzielle Zuwendungen für die syrischen Flüchtlinge bekommen sie von der Partei nicht. Sowohl der Bürgermeister als auch der Verantwortliche für die Zukunftsbewegung im Ort erklären, dass die gesamte Hilfe für die Syrer aus Spenden finanziert werde. Und einige Bewohner Irsals engagieren sich ehrenamtlich, wie etwa der Arzt Ali, der aus Angst erkannt zu werden seinen vollen Namen nicht nennen will.
Ali erzählt, wie ihn oft nachts Männer kontaktieren, die die Verletzten über die Grenze transportieren: "Ich gehe zur Grenze, leiste Erste Hilfe und setze mich dann mit dem Internationalen Roten Kreuz in Verbindung, die die Verletzten in Krankenhäuser nach Tripoli bringen. In den letzten zehn Tagen hat die Zahl der Verletzten stark zugenommen, berichtet der Arzt: "Jeden Tag kommen hier zehn, zwölf Personen an. Besonders schlimm ist es an den Wochenenden. Letzten Freitag kamen allein 15 Verletzte. Fast alle haben Schussverletzungen an Armen, dem Oberkörper oder den Beinen."
Die libanesischen Behörden versuchen immer wieder Bewohner Irsals, die sich für die Syrer engagieren, einzuschüchtern und sie zum Verhör einzubestellen. Die Sicherheitskräfte versuchten auch syrische Flüchtlinge zu verhaften. Eine offene Konfrontation mit den Bewohnern vermeidet die Regierung allerdings.
Ein stabiler Libanon bietet Vorteile für alle
Die Situation in diesem Städtchen ist ein Beispiel für die schwierige Gratwanderung, die der Libanon seit dem Ausbruch des Aufstandes in Syrien beschreitet. Die Regierung in Beirut, die aus der prosyrischen Allianz des 8. März und einigen sunnitischen Politikern um den Geschäftsmann und Ministerpräsidenten Nadschib Mikati besteht, schaut bei den regelmäßigen Grenzverletzungen der syrischen Armee demonstrativ weg. Auch gegen die Verminung der nördlichen Grenze protestiert die Regierung nicht. Andererseits duldet sie Tausende von syrischen Flüchtlingen und kommt teilweise für die Behandlung der Verletzten auf.
Kassim Qassir kann darin keinen Widerspruch erkennen. Der Journalist und Kenner der politischen Lage im Libanon spricht von einem Konsens lokaler, regionaler und internationaler Kräfte, die Lage im Land stabil zu halten: "Zurzeit haben alle Seiten Interesse, den Libanon zu schützen, weil sie das Land brauchen. Die politischen Kräfte, die gegen das Assad-Regime sind, brauchen den Zedernstaat, um die syrische Opposition von hier aus zu unterstützen. Die Regierung ihrerseits unterstützt das Regime in Syrien auch politisch."
Libanesen gegenüber Assad-Regime zwiegespalten
Für die schiitische Hisbollah, die stärkste Kraft innerhalb der Regierung in Beirut, ist das Assad-Regime als Partner im Kampf gegen Israel unerlässlich. Es sorgt für sicheren Waffennachschub und für politische Rückendeckung. Für die libanesische Opposition dagegen, die Allianz des 14. März, die aus der sunnitischen Zukunftsbewegung und einigen christlichen Kräften besteht, gilt Syrien seit dem Mord an dem ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri als erbitterter Gegner. Die Allianz des 14. März führte die sogenannte “Zedernrevolution“ an, die 2005 zum Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon führte.
Qassir weist darauf hin, dass der Libanon fast das einzige arabische Land sei, das sich bei Abstimmungen in der Arabischen Liga und der UNO auf die Seite von Damaskus schlage: „Solange die Krise in Syrien noch nicht entschieden ist, wird der Libanon ruhig bleiben. Aber wenn die derzeitige Situation sich zu einem richtigen Bürgerkrieg ausweiten sollte oder eine dramatische Veränderung eintreten sollte - etwa ein Putsch - dann werden wir im Libanon vor ernsthafte Probleme gestellt."
Bei den Gedenkfeiern für Rafik Hariri Mitte Februar fasste die libanesische Opposition schon etwas mehr Mut und solidarisierte sich offen mit dem "Syrischen Nationalrat", der größten Gruppe innerhalb der syrischen Opposition.
Auch das jüngste Aufflammen der alten Fehde zwischen einem sunnitschen und einem alawitschen Stadtteil in der nordlibanesischen Stadt Tripoli - die einen unterstützen den syrischen Aufstand, die anderen das Assad-Regime - bietet Anlass zur Sorge, ob die fragile Stabilität im Libanon aufrecht erhalten werden kann. Die Auseinandersetzungen in Tripoli konnten zwar wieder eingedämmt werden, aber sie können jederzeit wieder ausbrechen.
Autorin: Mona Naggar
Redaktion: Daniel Scheschkewitz/DianaHodali