Ethik-Professorin: Jackson-Boykott "aberwitzig"
6. April 2019DW: Frau Lotter, nach der Ausstrahlung der Dokumentation "Leaving Neverland" in den USA, in der zwei Männer berichten, als Kinder sexuell von Michael Jackson missbraucht worden zu sein, haben zahlreiche internationale Radiosender seine Hits aus dem Programm genommen. Wie bewerten Sie diese Reaktion?
Maria-Sibylla Lotter: Ich finde diese Reaktion erschreckend. Selbst wenn es sinnvoll wäre, das, was ein Künstler tut, quasi als Qualitätsurteil für seine Kunst zu verstehen, macht ein Boykott keinen Sinn, weil das Erheben von öffentlichen Anschuldigungen gegen Personen nicht mit einem juristischen Gerichtsurteil gleichgesetzt werden kann. Und so eine Reaktion signalisiert natürlich: Wenn durch öffentliche Anschuldigungen nur irgendwie der gute Ruf in Frage gestellt wird, kann das gleich die Vernichtung einer künstlerischen Existenz zur Folge haben – jedenfalls bei Personen, die nicht schon etabliert sind wie Michael Jackson.
Die Vorwürfe sind nicht neu, gegen Michael Jackson gab es zwei Gerichtsverfahren, in denen er freigesprochen wurde. Es gibt nun die sehr detaillierten Schilderungen in der Doku, aber keine neuen Beweise. Warum bewerten viele Jacksons Erbe nun anders als vorher?
Ich denke, die Radiosender befürchten, dass durch die Anschaulichkeit, mit der offenbar in dieser Dokumentation der Missbrauch vor Augen geführt wird, die Menschen emotional anders berührt werden, als würden sie nur in der Zeitung darüber lesen. Die Sender antizipieren, dass die Menschen in den nächsten Wochen oder Monaten möglicherweise diese Bilder vor Augen haben, wenn sie einen Michael-Jackson-Song hören. Ich finde nur beunruhigend, dass man meint, diese gemischten Gefühle erwachsenen Menschen heute offenbar nicht mehr zumuten zu können.
Welchen Zweck soll ein Boykott erfüllen?
Das entspringt wohl weniger einer eigenen moralischen Überzeugung, als der Angst vor der öffentlichen Meinung, gegenüber der man selbst lieber keine Position beziehen möchte. Mit der Zensur stellt man sich jedoch faktisch auf die Seite der moralisch Empörten. Im Moment herrscht offenbar die Vorstellung, wenn man beim Lesen oder Hören von Kunstwerken gemischte Gefühlte hat, disqualifiziert das diese Kunstwerke.
Die Kunst einer Person zu verbannen, die privat zweifelhaft, unmoralisch oder gar strafbar gehandelt hat, bedeutet, die Person mit ihrer Kunst gleichzusetzen. Ist das angemessen?
Nein. Wie merkwürdig das ist, kann man sich leicht vor Augen führen, wenn man die Situation mit der Wissenschaft vergleicht: Stellen Sie sich vor, jemand hat gerade den Nobelpreis in Wirtschaftswissenschaften bekommen und es stellt sich heraus, dass die Person kleine Jungen belästigt hat. Niemand käme auf die Idee, deren ökonomische Bücher für ungeeignet zu erklären. Bei der Kunst haben wir offenbar andere Vorstellungen, die sicher auch etwas mit Bedürfnissen zu tun haben, die wir an die Kunst richten.
Haben sich diese Bedürfnisse verändert?
Zur Blütezeit des Rock 'n' Roll herrschte ja eigentlich eher die Vorstellung vor, der Künstler lebte quasi ein anderes Leben, ein gefährlicheres Leben ohne Regeln, was man seit dem späten 18. Jahrhundert mit dem Genie-Begriff verbindet: Jemand ist nicht den gültigen Normen unterworfen, sondern schafft sich eigene. Das ist heute offenbar obsolet, man verbindet mit Künstlern jetzt ganz andere Wünsche.
Sie sollen das Genie bleiben, aber gleichzeitig die netten Nachbarn von nebenan sein?
Genau, sie sollen sogar ganz besonders vorbildhaft sein. Das merkt man auch an dem Druck, dem Schauspieler in den USA mit Blick auf die ständig wechselnden und hoch anspruchsvollen Normen der Political Correctness ausgesetzt sind. Sie müssen sich öffentlich entschuldigen, wenn sie ein Mitglied einer Minderheit oder einen Gelähmten spielen und damit nach den meines Erachtens ziemlich abstrusen neuen Codes, die eigentlich gar keine Schauspielerei mehr zulassen können, einer Person die Rolle wegnehmen, die dieser Minderheit oder Gruppe angehört.
Wenn wir ein Kunstwerk oder einen Film sehen oder ein Lied hören, meinen wir, dadurch erfahren zu können, wer der Künstler oder die Künstlerin als Mensch ist. Ist das nicht eine schlüssige Erwartungshaltung, die wir als Betrachter mit Kunst verbinden?
Das ist ein interessanter Punkt. Bei einer Sängerin, die mit ihrem ganzen Körper singt, sehen wir, wie sie in dem Moment fühlt und wir glauben, dass sich in ihrem stimmlichen Ausdruck ihre Persönlichkeit zeigt. Im Roman einer Schriftstellerin kommt auch die eigene Lebenserfahrung zum Ausdruck. Oder ein Rockmusiker steigert sich in Stimmungen, während er einen Song schreibt. Natürlich zeigen sich darin Fragmente einer Persönlichkeit, es ist jedoch irreführend, das, was da zum Ausdruck kommt, mit der moralischen Person gleichzusetzen.
Wir überhöhen also die Personen in unserer Vorstellung, wenn wir sie als Künstler in einem Film oder Musikvideo sehen?
Ich denke ja. Auf Personen, die bei uns Bewunderung auslösen, projizieren wir auch moralische Idealisierungsbedürfnisse. Kevin Spacey war besonders bekannt durch die Rolle des Bösewichts in "House of Cards". Ein Schauspieler, der gerade deswegen geliebt wird, weil er eine ganz besonders abgefeimte, absolut skrupellose Person spielt, wird dann aus einem fast fertigen Film herausgeschnitten, weil sich herausstellt, dass er im Privatleben der schmierige Onkel von nebenan ist, der es nicht lassen kann, immer wieder jungen Männern die Hand auf den Oberschenkel zu legen. Das ist schon aberwitzig. Wir wollen die böse Kunstfigur sehen, weil sie reizvoller ist als der Mann von nebenan. Und wenn sich dann jemand als ein ganz gewöhnlicher Grapscher entpuppt, muss diese Person aus der Wahrnehmung entfernt werden.
Wenn die Fiktion von der Realität eingeholt wird, reißt uns das aus unserem Eskapismus. Das wollen wir vermeiden?
Genau. Wenn wir wissen, es ist ja nur im Film, dann genießen wir die Bösartigkeit dieser Charaktere. Aber wir sind nicht mehr bereit, die gewöhnliche Schmierigkeit so eines Belästigers zu akzeptieren, wenn es sich um eine Person handelt, die wir andererseits als tollen Schauspieler bewundern. An diese ästhetische Bewunderung hängt sich offenbar derzeit auch das Verlangen, auf gar keinen Fall mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert zu werden. Warum soll man nicht Kevin Spacey sehen und gleichzeitig ein unangenehmes Gefühl haben, weil man sich daran erinnert, dass er als wirklicher Mensch vermutlich ein ziemlich unangenehmer Charakter ist? Das mag zwar ein unschönes Gefühl sein, aber es ist eine realistische Wahrnehmung.
Von den Boykottaktionen abgesehen ist doch aber begrüßenswert, dass Themen wie Rassismus oder sexueller Missbrauch heute gesellschaftlich offener debattiert werden.
Natürlich ist das Gute an solchen Anlässen, dass sie Diskussionen auslösen, die zu einer Sensibilisierung der moralischen Wahrnehmung führen können, als Nebenfolge allerdings oft auch zu hysterischen Reaktionen. Ich meine Fälle wie das bekannte Schicksal des Eugen-Gomringer-Gedichts an der Berliner Hochschule, das einer an sich begrüßenswerten, aber auch partiell in Hysterie abgleitenden Diskussion über sexuelle Belästigung zum Opfer fiel. Und es macht keinen Sinn, möglichen Reaktionen von Radiohörern vorweg zu greifen und sich selbst als moralische Institution aufzuspielen, die hier durch moralische Zensur die zarten Gefühle des Publikums schützen muss.
Maria-Sibylla Lotter ist Philosophin und Professorin für Ethik und Ästhetik an der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Forschungsgebieten zählen die Ethik des Alltagslebens sowie das Zusammenwirken von Philosophie und Kunst. Derzeit ist sie Fellow am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld.
Das Gespräch führte Torsten Landsberg.