EU einigt sich auf Asylreform
20. Dezember 2023Übermüdet und erleichtert traten die Unterhändler von Europäischem Parlament, Europäischem Ministerrat und Europäischer Kommission am Mittwochmorgen in Brüssel vor die Kameras. In langen Nachtsitzungen hatten sie sich auf einen Gesetzentwurf für ein umfassendes europäisches System für Asylverfahren geeinigt.
Zehn Jahre lang sei daran gearbeitet worden, sagte die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola. Nun endlich stehe das Gesetzespaket, das aus acht Teilen besteht. "Das ist gewaltiger Erfolg, vor einem Jahr, in dem das Europäische Parlament neu gewählt wird", freute sich Metsola.
Das Reformpaket sei nicht perfekt, sondern ein Kompromiss, der viel besser sei als der jetzige Zustand der Asylverfahren, sagte die Präsidentin. Sie hofft darauf, rechtspopulistischen Parteien im Wahljahr 2024 den Wind aus den Segeln nehmen zu können. "Europa kann bei einem Thema liefern, das die Menschen bewegt", so die Parlamentspräsidentin.
In zwei Jahren praktische Umsetzung
Bis die neuen Asylverfahren greifen, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Zunächst müssen Parlament und Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Gesetze bis Ende April formal verabschieden. Danach werden ungefähr zwei Jahre für die komplette Umsetzung der Regelungen in den Mitgliedsstaaten nötig sein, sagte der Europaabgeordnete Tomas Tobe aus Schweden, der für die christdemokratische Fraktion verhandelt hat.
Kern der neuen Regelungen ist die Pflicht für alle Mitgliedsstaaten, alle ankommenden Migrantinnen und Migranten an den Außengrenzen zu erfassen und zu überprüfen. Dieses Screening soll zeigen, ob die Migranten aus Ländern kommen, die eine Anerkennungsquote in Asylverfahren unter 20 Prozent haben.
Ist dies der Fall, sollen die Migranten in ein "schnelles Grenzverfahren" kommen - auch Familien mit Kindern. In geschlossenen Lagern in der Nähe der Grenze soll innerhalb von zwölf Wochen entschieden werden, ob diese Migranten sofort abgeschoben werden oder vielleicht doch schutzbedürftig sind.
Erstmals Pflicht zur Solidarität der EU-Staaten
Schutzbedürftige würden dann wie Migranten aus Staaten mit einer Asylanerkennungsquote von über 20 Prozent das normale Asylverfahren durchlaufen. Zuständig bleibt für die Asylverfahren wie bisher der EU-Staat, in den die Migranten zuerst eingereist sind.
Neu ist, dass es erstmals eine "verpflichtende Solidarität" für alle 27 Mitgliedsstaaten geben soll. Überlasteten Staaten wie Italien, Zypern, Malta oder Griechenland sollen Asylbewerber abgenommen werden. Sollten EU-Staaten im Norden oder Osten der Europäischen Union sich weigern, Menschen aufzunehmen, können sie wahlweise auch Sachleistungen oder eine Abgabe von 20.000 Euro für jeden nicht aufgenommen Asylbewerber zahlen.
Um eine Rückführung nach abgeschlossenen Grenzverfahren zu gewährleisten, will die EU-Kommission noch stärker als bisher mit Herkunfts- und Transitstaaten verhandeln. Abschiebungen sollen auch in sogenannte sichere Drittstaaten möglich sein. Bislang konnte nur ein Fünftel aller Ausreisepflichtigen auch tatsächlich zurückgeführt werden.
EU-Kommission weist Kritik zurück
EU-Kommissarin Ylva Johansson, die jahrelang an dem Asylkompromiss gefeilt hat, bestand darauf, dass sich die Lage für die künftigen Migranten nicht verschlechtere. "Während des ganzen Verfahrens wird es jetzt eine Rechtsberatung geben und das Recht auf eine gerichtliche Überprüfung bleibt erhalten", sagte Johansson vor der Presse. Sie reagierte damit auf die harsche Kritik von fast 50 Hilfsorganisationen, die glauben, dass die neuen Regeln nicht praktikabel sind und zu einer Einschränkung des Asylrechts oder gar der Menschenrechte führen.
Die Kritik hatten die Flüchtlingshelfer in einen offenen Brief an die Unterhändler von Parlament, Ministerrat und Kommission dargelegt. Familien mit Kindern, die im Grenzverfahren landen, sollen eine spezielle Unterbringung und Betreuung bekommen, versprach Kommissarin Johansson.
Die deutsche Bundesregierung hatte sich lange gegen eine Einbeziehung von Familien mit kleinen Kindern in die Schnellverfahren gewehrt, konnte sich letztendlich aber nicht durchsetzen. Die Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser lobte das ausgehandelte Paket trotzdem als großen Erfolg für Europa. "Wenn wir das Europa der offenen Grenzen im Inneren bewahren wollen, müssen wir die Außengrenzen schützen und funktionierende Verfahren erreichen. Wir wollen, dass das Sterben auf dem Mittelmeer und das Chaos und die Rechtlosigkeit an den Außengrenzen ein Ende haben", sagte Faeser in Berlin.
"Die geplante Reform ist menschenrechtswidrig und wird zu mehr Leid, mehr Pushbacks und mehr Gewalt an den EU-Außengrenzen führen", kritisierte dagegen Julia Duchrow, die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland. "Sie wird bestehende Herausforderungen nicht lösen, sondern verschärfen."
Bei einer "Instrumentalisierung" von Migranten, die zum Beispiel von Belarus oder Russland an die EU-Grenzen verfrachtet werden, sehen die neuen Regeln sofortige Zurückweisungen ohne Verfahren vor. Das wird von Amnesty International besonders kritisiert. Italien könne zum Beispiel Rettungsorganisationen "Instrumentalisierung" vorwerfen und Schiffbrüchige zurückweisen.
Auf die Anerkennungsquote kommt es an
Das neue schnellere Grenzverfahren würde nach Angaben der Europäischen Statistikbehörde Eurostat zum Beispiel Menschen aus Pakistan oder Venezuela betreffen, weil deren Anerkennungsquote im EU-Durchschnitt unter 20 Prozent liegt. Migranten aus Syrien, Somalia, Mali oder Afghanistan würden das normale Verfahren durchlaufen, das derzeit mehrere Jahre dauern kann. Ihre Anerkennungsquoten liegen deutlich über 20 Prozent.
Im Falle der Türkei entwickeln sich die Zahlen gerade sehr dynamisch. Die Zahl der Asylbewerber hat in diesem Jahr stark zugenommen. Die Anerkennungsquote zum Beispiel in Deutschland sank allerdings von 28 Prozent im Jahr 2022 auf geschätzte 15 Prozent in diesem Jahr.
Noch haben sich weder Griechenland noch Italien verpflichtet, neue Internierungslager für die Grenzverfahren zu bauen, die von der EU-Kommission in den Gesetzestexten "Aufnahmezentren" genannt werden. Ungarn und Polen weigerten sich bei der Abstimmung im Ministerrat im Juni, sich an der verpflichtenden Solidarität zu beteiligen. Bei der praktischen Umsetzung der neuen Asylgesetze könnte also noch Ärger drohen.