EU-Gipfel zeigt starke Solidarität mit Selenskyj
9. Februar 2023Das schlichte dunkle Sweatshirt, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, bei seinen Auftritten in Brüssel trug, machte klar, worum es ihm bei diesem Besuch ging. Das Sweatshirt trug den Aufdruck "United24". Das ist ein Hinweis auf die Webseite, mit der Selenskyj persönlich seit Mai letzten Jahres Spenden und Unterstützung für den Abwehrkampf der Ukraine gegen den russischen Angriff sammelt. Der Besuch des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates, also der Gipfelrunde der Regierungschefinnen und -chefs, dient dazu, mehr europäische Hilfen und Unterstützung für das bedrängte Land einzuwerben.
"Nach Hause kommen"
"Die Ukraine wird Mitglied der Europäischen Union sein, eine siegreiche Ukraine", sagte Wolodymyr Selenskyj am Rednerpult des Europäischen Parlaments. Das werde auch ein Gewinn für die EU sein. Vor dem gut gefüllten Plenum in Brüssel beschwor der Präsident die gemeinsame Verteidigung der europäischen Werte gegen den russischen Diktator, der eben diese Werte zerstören wolle. "Das ist unser Europa. Das ist unser Lebensstil. Für die Ukraine ist das wie nach Hause zu kommen", rief Selenskyj den Abgeordneten mit Blick auf das laufende Beitrittsverfahren zur EU zu.
Natürlich dankte der ukrainische Präsident den Abgeordneten und nicht nur Ihnen, sondern allen europäischen Regierungen und allen europäischen Menschen für die historisch einmalige Unterstützung des angegriffenen Staates. Mehrfach spendeten die Parlamentarier minutenlang Applaus im Stehen. "Dieser Applaus gilt nicht mir, sondern Ihnen allen", sagte ein bewegter Wolodymyr Selenskyj und meinte damit alle Europäerinnen und Europäer. "Europa wird bestehen, so lange wir zusammenstehen", sagte Selenskyj und verband den Satz mit einer Einladung an alle Abgeordneten, die Ukraine zu besuchen.
Viele Symbole
Der Präsident wiederholte nur kurz seine bereits in London vorgetragene Bitte um Kampfflugzeuge und Raketen mit längerer Reichweite. Konkrete Forderungen stellte er öffentlich nicht. Auch bei dem Wunsch nach einem schnellen Beitritt seines Landes zur EU blieb er eher vage und beließ es bei symbolischen Gesten. Mit EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hielt er eine große Europa-Flagge hoch. Gemeinsam hörte man die ukrainische Nationalhymne und die Europa-Hymne im Plenarsaal. Wolodymyr Selenskyj legte die rechte Hand aufs Herz und sang seine Hymne kräftig mit. "Ruhm und Wille der Ukraine sind noch nicht tot, das Schicksal wird uns zulächeln", lauten die ersten Verse.
Roberta Metsola würdigte im Anschluss die Führungsstärke des Gastes als Inspiration für sein Volk und die ganze Welt. Sie sagte, der Platz der Ukraine sei in der EU. Sie sprach aus, was Wolodymir Selenskyj nicht explizit gefordert hatte. Die Opfer der Ukraine müssten durch Taten der Europäer gewürdigt werden, so Metsola, und zwar "durch einen schnellstmöglichen Beitrittsprozess zur EU, mit mehr militärischer Hilfe. Der nächste Schritt für die Mitgliedsstaaten: Sie müssen Raketen mit größerer Reichweite und Kampfflugzeuge liefern."
Keine harten Zusagen
Die Forderung der EU-Parlamentspräsidentin haben die 27 EU-Regierungschefinnen und -chefs wohl gehört, aber konkrete Zusagen gab es bei ihrem anschließenden Gipfelgespräch am Nachmittag noch nicht. Von Reportern auf Ergebnisse seiner Beratungen angesprochen, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, er sei dankbar für die Zusicherungen, dass die EU an der Seite der Ukraine stehen werde, bis sie siegreich sei. Man werde weiter über Kampfjets sprechen. Die Arbeit gehe weiter. Er könne auch nicht über alles öffentlich sprechen, weil Russland natürlich immer mithöre. "Ich habe konkrete Signale bekommen, die wir jetzt in praktische Entscheidungen umsetzen müssen", sagte Selenskyj. "Ich kann mir nicht leisten, ohne konkrete Zusagen nach Hause zu fahren."
EU-Beitritt hängt von Fortschritten ab
Etwas konkreter wurde die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen. Sie sagte zu, dass das zehnte Sanktionspaket gegen Russland, das gerade vorbereitet wird, Maßnahmen gegen die Propagandisten von Russlands Machthaber Vladimir Putin enthalten werde. Diese Maßnahme gegen russische Propaganda hatte Selenskyj ausdrücklich gefordert. Ob der Wunsch der Ukraine erfüllt wird, noch in diesem Jahre Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen, ließ von der Leyen offen. Das hänge von den Fortschritten ab, die die Ukraine bei den Reformen mache. Die bisherigen Schritte seien inmitten der derzeitigen Kriegslage "sehr beeindruckend". Im Herbst werde man dann hoffentlich ein positives Zeugnis im sogenannten "Fortschrittsbericht" für den Beitrittskandidaten ausstellen können. Einen "rigiden Zeitplan" gebe es nicht. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach sich für einen zügigen Prozess aus. Das dürfe nicht noch einmal 20 Jahre dauern, wie bei den Westbalkanstaaten, denen schon 2003 beim Gipfel von Thessaloniki ein Beitritt versprochen worden sei.
Ein von der Ukraine und vom Europäischen Parlament gefordertes Kriegsverbrecher-Tribunal für mutmaßliche russische Täter unterstützte der EU-Gipfel nicht direkt. "Ich versichere dir, Wolodymyr, dass wir den politischen Willen haben, die Täter zur Verantwortung zu ziehen", sagte Kommissionspräsidentin von der Leyen in der gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten. "Wir werden einen Weg finden." Zunächst soll ein besonderes Ermittlungszentrum beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingerichtet werden.
Nicht nur Eintracht
Die Stimmung während dieses außergewöhnlichen Gipfeltreffens mit einem Land, das sich im Abwehrkampf mit Russland befindet, nannte der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, "sehr emotional." 26 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs klatschten, als Wolodymyr Selenksyj beim Gipfel auftrat. Nur einer hielt die Hände still: Der ungarische Premierminister Viktor Orban wirkte versteinert. Orban hat nach wie vor ein relativ gutes Verhältnis zum russischen Machthaber Putin. Ungarn bezieht weiter Energie aus Russland und baut zusammen mit einer russischen Firma ein neues Atomkraftwerk.
Etwas Zwietracht in der EU gab es auch wegen des Zwischenstopps von Präsident Selenskyj in Paris. Die rechtsradikale italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni beschwerte sich, dass das Treffen von Emmanuel Macron und Kanzler Scholz mit Selenskyj im Elysee-Palast am Mittwochabend "unangemessen" gewesen sei. "Ich denke, unsere Einigkeit ist unsere Stärke", stichelte Meloni. Kollege Macron habe wohl hauptsächlich aus innenpolitischen Motiven vor dem eigentlichen Gipfel in Brüssel ein bildstarkes Treffen in Paris arrangiert. Selenskjy hatte seine Europareise in Großbritannien begonnen und war dann über Paris nach Brüssel gereist. Kurz vor Weihnachten hatte er bereits die USA und Polen besucht. Damit spiegeln die Reiserouten ungefähr den Anteil an Waffenlieferungen, den die besuchten Verbündeten schultern, so EU-Diplomaten. Die USA sind mit Abstand der größte Waffenlieferant für die Ukraine, dann folgen Großbritannien, Deutschland, Polen und Frankreich. Italien kommt erst auf Platz 8. Kanzler Scholz wies Kritik an einer vermuteten deutschen Zögerlichkeit bei Waffenlieferungen zurück. "Wir sind schnell", sagte Scholz und betonte, dass Deutschland in der EU der größte Waffenlieferant für die ukrainische Armee ist.
Präsident Selenskyj trat mittlerweile den Rückweg nach Kiew an. Er schickte als Zeichen der europäischen Solidarität Rettungsteams aus der Ukraine in das Erdbebengebiet in die Türkei. Ein Schritt, den noch nicht einmal alle Mitgliedsstaaten der EU bislang unternommen haben. "Das ist wahrer europäischer Geist", lobte EU-Parlamentspräsidentin Metsola den Gast aus der Ukraine.